Wlodzimierz Odojewski: „Ein Sommer in Venedig“

Wlodzimierz Odojewski: „Ein Sommer in Venedig“, aus dem Polnischen von Barbara Schaefer, München 2007, die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel „Sezon Wenecji“ in Warschau, 125 S., 14,80 Euro

Ein sehr liebenswertes und poetisches kleines Buch.
„Roman“ hätte man es nicht nennen müssen, aber sei“s drum.
Nur ist es schwer, von dem Buch zu berichten, ohne zu viel zu verraten und damit dem Leser die Spannung beim Selber-Lesen zu nehmen. Das aber soll auf keinen Fall geschehen.
Ein Versuch, dennoch ein paar Sätze über das nette, auch hübsch gemachte Buch (Ganzleinen, flexible Deckel, Lesebändchen) zu sagen:
Es ist der Sommer 1939, als der neunjährige Marek, der für sein Alter schon viel über Venedig weiss und nun endlich hinfahren sollte, stattdessen zu Tanten auf“s Land geschickt wird. Nicht zu seiner Freude, enttäuschend fangen die Ferien für ihn an.
Dann beginnt der Krieg. Wie Odojewski das aus Kinderperspektive berichtet, ist toll gemacht und lesenswert:
„Am Morgen waren die Ulanen auf der Wiese hinter dem Obstgarten schon weg. Sie hatten von den Pferdehufen zertrampeltes Gras zurückgelassen, dazwischen sah man eine schwarze Feuerspur entlang der Ackergrenze, schiefe, zertretene Heuhaufen, vor denen sie geschlafen hatten, und der Geruch vom Abend, den er am Boden wahrgenommen hatte, war nicht mehr so stark, liess schon nach, verflüchtigte sich in der erneuten Hitze; dieser Geruch von Pferden, Schweiss, Leder, vom Rauch des Strohs, der Zweige und Blätter und von kräftigen jungen Männern, die wussten, was sie am nächsten Tag erwartete.“ (S. 60)


In der Folge ändert sich die Stimmung im Haus, wird betroffen und traurig.
„Später war dann nichts mehr so wie vorher. Als habe diese Welt plötzlich all ihre Farbenpracht verloren, sei verblasst, verschmutzt – nicht dass sie trauriger geworden war, sie war einfach fremd geworden, fast feindselig, sie machte angst, (…).“ (S. 74)
Nicht zu Unrecht wie sich erweisen wird, denn Marek erlebt einen Fliegerangriff mit und sieht einen Soldaten sterben. Noch begreift er nicht, dass in diesen Tagen seine Kindheit „für immer entschwand“. (S. 82)
Bis sich plötzlich etwas Eigenartiges ereignet:
„Im Keller, wo in Regalen Kompottgläser und viele Flaschen mit Obstwein für den Winter gelagert wurden, sprudelte eine Quelle.“ (S. 61)
Und Mareks Lieblingstante hat eine Idee.
Diese erweist sich als äusserst stark und segensreich und Marek wird sich doch noch mit seinem Landaufenthalt anfreunden. Ja mehr noch:
„Draussen herrschte brütende Hitze, die aber langsam etwas nachzulassen begann, die Sonne stand bereits über den Wipfeln der Pappeln am Rande des Gartens, in der Umgebung war es ruhig und friedlich, kein Artillerieecho, auch in der Ferne nicht, kein Dröhnen von Flugzeugen, nicht einmal aus höchster Höhe, das Getöse der Landstrasse hatte ebenfalls aufgehört, und sie, die Kinder, hatten zweifellos für einige Zeit den Krieg ganz vergessen; es war ein herrlicher Tag, einer der schönsten Tage seines, Mareks, Lebens obwohl es in jenem September war.“ (S. 95 f.)
Wie man sieht wird mit langen Sätzen und mit grosser Direktheit und Frische des Erzählens geschildert, was diesen Sommer ausmachte. Dem Autor ist mit diesem Buch ein kleines Kunstwerk gelungen: Ein Idyll im Angesicht des Krieges zu schreiben, ohne in Kitsch zu verfallen. Ein kleines Lehrstück über die Macht der Phantasie und der Künste. (Vgl. auch S. 103 f.)


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Kommentare

6 Antworten zu „Wlodzimierz Odojewski: „Ein Sommer in Venedig““

  1. Avatar von uwe
    uwe

    da kann ich dir nur zustimmen:
    eine im guten sinne rührende geschichte, klar und zugleich stimmungsvoll und reflektiert erzählt.
    lesen und sich verzaubern lassen.

  2. Avatar von Helmut
    Helmut

    Na, Einigkeit, kann ja auch mal was Schönes sein.
    Ich hatte nachgesehen, es gibt noch mehr von ihm – kennst du noch etwas anderes?

  3. Avatar von uwe
    uwe

    ja, einigkeit: das müߟte vor allem für dich eine neue erfahrung sein, hier auf dieser seite, in den diskussionen mit mir. bei dem kuczok wird sie nicht herzustellen sein. muߟ auch nicht. um so schöner, daߟ der odojewski wenigstens bei dir „gezündet“ hat.
    anderes kenne ich nicht von ihm. werde aber aufmerksam bleiben.

  4. Avatar von uwe
    uwe

    ein kleiner nachtrag noch, auch im rückblick auf unsere diskussion anläߟlich des vigevani-buches über das interesseante an pubertätsgeschichten:
    auch beim odojewski finden sich diese konditionalkonstruktionen, die mir so treffend erscheinen, um einen bewuߟtseins- und gefühlzustand des nicht-mehr-und-noch-nicht, der schwelle zu charakterisieren. da haben wir zusammen mit dem vigevani und gilliams schon ein drittes beispiel, wie man literarisch auf das besondere gefühls- und gedankentheater der adoleszenz reagiert und dies formal angemessen umsetzt. es könnte sich lohnen, das im hinterkopf zu behalten, für künftige lektüren.

  5. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ist der Held in diesem Buch nicht zu jung dafür?

  6. Avatar von uwe
    uwe

    er mag zu jung sein für die adoleszenz-krise, mit seinen neun jahren. obgleich das leise erwachen der eigenen sexualität und der sinnlichen triebe wird ja auch geschildert. vielleicht ist er frühreif in dieser angelegenheit. aber vor allem der druck der weltverhältnisse bewirkt den bruch mit der eigenen kindheit. das wird vom jungen helden nicht gleich bemerkt, doch mit der zeit wird es ihm, dem erzähler der geschichte, immer klarer, daߟ dieser sommer das vorzeitige entschwinden seiner kindheit einleitete (siehe vor allem s. 82). insofern schien mir hier eine schwellen- oder zwischenzeit dargestellt, die mich an die genannten pubertätsgeschichten erinnerte.

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