Otto de Kat: „Mann in der Ferne“

Otto de Kat: „Mann in der Ferne“, Roman aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke, Frankfurt am Main 2003, zuerst unter dem Titel „Man in de verte“, Amsterdam 1998, 94 Seiten, 14,90.-, zur Zeit aber auch für ca. 3-4 Euro gebraucht im Internet

Dies ist der erste Roman des Lyrikers, Literaturkritikers und Verlegers Otto de Kat. [Sein späteres Buch „Sehnsucht nach Kapstadt“ ist hier bereits im Mai 2007 besprochen worden]
Unter 100 Seiten und ein Roman? – Ja, das geht. De Kats Buch ist trotz seiner Kürze ein vielschichtiges, reiches und zugleich federleichtes Buch. Seine assoziative Schreibweise, die kaum zu greifen und nachzuerzählen ist, hinterlässt den Eindruck, ein Buch von mindestens doppeltem Umfang gelesen zu haben. Dieser extrem verkürzende, raffende Stil sorgt gleichermaßen für den Eindruck der Leichtigkeit wie der Tiefe, kann aber zuweilen auch ein wenig eilig, wenn nicht hektisch wirken. Er gibt einem nicht viel an die Hand, keine Sicherheit, keine Konsequenz, so scheint es. Da ist ein Bewusstsein im Tiefflug unterwegs, auf der Suche nach Erinnerungen – oder getrieben von solchen – und nach dem Vater, der auch in „Sehnsucht nach Kapstadt“ eine prominente Rolle spielt.
Gegen Ende des zweiten Drittels des Buches wird etwas über den Geheimdienst gesagt, das man auch als Teil der Poetik von de Kat ansprechen kann:
„Beim Geheimdienst werde einem erst klar, dass gar keine Wirklichkeit gebe. Wenn man im Hinterhalt liege, erkenne man erst richtig, dass die sogenannte Wirklichkeit eine zufällige Ansammlung von Fragmenten sei. Niemand verstehe irgend etwas, niemand. Auch der kleinste Bruchteil des eigenen Daseins passe nirgendwo in ein grösseres Ganzes. Es gebe kein grösseres Ganzes, gerade die Vorstellung, es gebe ein Ganzes, sei ein Phantom.“

(S. 63)


Für eine Geheimdiensttätigkeit eine sehr reflektierte Sicht der Dinge, man darf bezweifeln, dass etwa Stasi-Mitarbeiter zu einer solchen durchgedrungen sein könnten. Sein Schreiben scheint aber auch diesem Grundsatz zu folgen, er bietet nur Splitter und Fragmente, teils sehr schöne, die auch einen Sinn für Atmosphäre beweisen. Sie ziehen am Leser vorbei, der sich aus diesem Kaleidoskop seinen Reim machen muss. Es ist ein kreisendes Schreiben, ein sehr erinnerungs- und gefühlsnahes, das sich um bestimmte Themen dreht: Seinen Vater, aber auch um die Zeit selbst, ihren Einfluss oder unser Verhältnis zu ihr. So ist die Rede vom Beherrschen der Zeit (vgl. S. 65) und: „Seine Leidenschaft für die Vergangenheit beherrschte auch seine Zukunft. Das musste er endlich ändern, er konnte sein Leben doch nicht immer weiter vor sich herschieben, indem er nur auf das zurückblickte, was gewesen war.“ (S. 77)
Dieses – moderne?! – Motiv des Lebens-Verpassens ist ein mahnendes, macht aber auch die Fremdheit deutlich, die der Erzähler sich selbst und damit wohl gleichfalls der Welt gegenüber hat und die ihm auch Erzähl-Anlass sein mag. Verluste, so kann man dem kurzen Roman entnehmen, sind zu ertragen, die Vergangenheit ist etwas, das, auch wenn es wichtig sein mag, nicht übermächtig werden, der man nicht zu viel Macht einräumen darf, oder? (Vgl. S. 77) Gerade das aber scheint ihm schwer zu fallen. Und wie fremd, wie distanziert klingt das: „Menschen gehören zur Ausstattung der Welt, sie waren da, aber man kannte sie nicht. Sie existierten, aber man hatte keine Verbindung zu ihnen, sie hatten keine bleibende Form oder Gestalt.“ (S. 77) Das klingt kalt und hart am Wahnsinn segelnd. Dennoch ist diese assoziative Prosa von einem Unterstrom aus Wärme unterspült. Eine Wärme, deren Quelle sich, so muss man vermuten, aus dem Früheren speist? Oder eine, deren Quelle die Sehnsucht nach Ganzheit ist? Am Ende des Buches findet sich folgende, ungeheure Passage: „Das Klassenzimmer im Halbdunkel, vier Uhr nachmittags, noch niemand drauܟen. Er war höchstens zehn. Nichts existierte bis dahin, kaum Vergangenheit, kaum Zukunft, Aussicht auf zehn mal zehn Meter frisch gefallenen Schnee. Krieg, Krankheit, Tod, Liebe, Literatur, Religion: Es gab sie noch nicht, sie hatten sich noch nicht zu einer Geschichte zusammengefügt, es war noch nichts geschehen. Er träumte noch und glaubte alles, was er sah und nicht sah.“ (S. 93)
Was für ein Schlaglicht in ein, in jedes Leben! Wie Zeit, wie Erwachsenwerden mit uns spielt, wie wir werden was wir sind. Den Zauber des Schnees hatte schon Benjamin bedacht, auch in dieser Stelle versagt er nicht seine Wirkung. Und mit Jean Paul könnte man vermuten, ob es diese Ureinheit vor der Erkenntnis ist, die den Sehnsuchtspunkt des Erwachsenenlebens ausmacht und die Keimzelle seiner Wärmeerfahrung darstellt. Wer solche epiphanischen Aufrisse schreibt, der darf zurecht, und auch hier ist er nah bei Benjamin, auf die Bedeutung des Details verweisen, wenn er schreibt: „Details sind die Nervenbahnen des Wahren.“ (S. 81) Auch diese Bemerkung, die eine grundlegende Erkenntnis formuliert, ist Teil der Poetik und zugleich Berechtigung dieser Art des Schreibens in Fragmenten.
Am Ende des Buches wird das Sterben des Vaters thematisiert. Und auch hier findet de Kat ein einfaches, aber sehr schönes Bild, wenn der Vater des Erzählers sagt, und daraus Trost schöpft, dass es ihm die panische Angst nahm, also etwas Trost spendete, „verankert“ zu sein „zwischen meinen toten Eltern und meinen lebenden Kindern“. (S. 90)
Ebenfalls als Ausdruck der Poetik des Autors kann das folgende Zitat einer Figur gelesen werden, die sagt: „Denken gibt es gar nicht. Denken ist ein Ideal. Unser Leben ist so restlos zersplittert, dagegen kann kein Denken an.“ (S. 90)
Dieser Ausgeliefertheit an die im Grunde heillose Zersplitterung entspricht das fragmentarische Schreiben – und doch fügt der Autor diese Splitter zusammen. Das entstehende Buch könnte demnach als Antwort ein utopischer Reflex dieser Zersplitterung sein. Nichts ist sicher, den Kausalnexus gibt es nicht, andere Menschen bleiben un(be)greifbar, was es gibt, sind viele Empfindungen und unseren Weg durch die Fährnisse der Zeit. Wenn man aber erzählend Fragmente einfängt und kombiniert, auch wenn sie keinen lückenlosen Zusammenhang und keine konsistente Erzählung ergeben, so heben sie vielleicht doch das völlige Ausgeliefertsein auf und erzeugen als Zersplittertes im Kunstwerk ein spätes, sekundäres Ganzes. Mehr ist vielleicht nicht (mehr?!) möglich. Aber eine Suche nach Verankerung mag es auch sein.
Dieses Schreiben ist ein zutiefst melancholisches. Es sieht den Menschen als vergangenheitsbehaftet, ja -geprägt, diese schiebt ihn machtvoll wie ein Gletscher sein Geröll vor sich her, aber was sieht er, wenn er nach vorne blickt, ist: Das Grab. (Vgl. S. 91)


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