Pawel Sanajew: „Begrabt mich hinter der Fussleiste“, aus dem Russischen von Natascha Wodin, München 2007, zuerst Moskau 2003 unter dem Titel „Pokhoronite menja za plintusom“, 237 Seiten, 17,90 .- Euro, gebraucht billiger, ab etwa 11,50.-
Sanajew präsentiert in seinem Debüt-Roman den Einblick in eine Kindheitshölle.
Artig stellt sich der junge Erzähler, er geht in die zweite Klasse, im ersten Satz des Buches vor. Doch schon im dritten und vierten kommt er zur Sache: „Meine Mutter hat mich gegen einen Giftzwerg und Erbschleicher eingetauscht und meiner Grossmutter aufgehalst, für die ich ein schweres Kreuz bin. So, als Kreuz, auf Grossmutters Schultern, lebe ich seit meinem vierten Lebensjahr.“ (S. 7)
Der erwachsene Erzähler leiht dem eingesetzten kindlichen seine Stimme und lässt ihn naiv das nachreden, was er tagaus tagein von der Grossmutter zu hören bekommt. Im Wesentlichen sind es Schimpftiraden und Verfluchungscluster der übelsten Sorte. Zunächst kann man es noch amüsant finden, doch bald ist das Geäusserte so miserabel und neben der Spur, dass einem das Grinsen im Hals stecken bleibt. Schnell lehnt sich etwas in einem gegen diese Unwort-Anhäufungen auf. Jedes normale Mass wird einfach überschritten – sowohl in der Quantität wie auch in der Qualität. Doch der Erzähler merkt, was er seinem Leser zumutet und geht selbst auf das Problem ein – man bleibt bei der Stange, ist etwas beruhigt und liest weiter. Dann wird die Sache aus der Perspektive des Grossvaters belichtet und endlich wird auch die Mutter des Erzählers näher vorgestellt. Irgendwann kommt das furchtbare Gorki Park-Kapitel und spätestens im Ferienheim ist man wieder ganz dabei und wird von der Geschichte weitergezogen.
Erzählt werden die Qualen eines russischen Jungen, der bei den Grosseltern aufwächst und von seiner Liebe heuchelnden Grossmutter aufs Übelste sadistisch misshandelt wird. – Und man merkt, dass die Figuren, die sich für ihr in ihren eigenen Augen verfehltes Leben nicht selbst, sondern anderen die Schuld geben und daraus das Recht ableiten, sich lebenslang an anderen zu rächen, zu den verlorensten, aber auch, besonders an diesem Beispiel, hassenswertesten zählen – vermutlich in der Literatur wie im Leben: Nehmt euch vor denen in acht, die erzählen, sie würden sich für euch aufopfern! (Vgl. S. 179, S. 208, S. 209, S. 214 etc.)
Natürlich kann man sich Gedanken machen über die Erzählperspektive.
Wird aus der Sicht eines jungen, allzu jungen Helden erzählt, kann sich die Frage stellen, warum der doch erwachsene Autor hinter diesem Erzähler diese – einfachere? -, notgedrungen naivere Sicht wählt. – Dafür kann es viele und auch die erlaubtesten Gründe geben, trotzdem ist die Frage berechtigt. Zumal es so scheint, aber das ist ein vager Eindruck, dass die Anzahl dieser Kinder-Erzähler – in den letzten Jahren besonders? – zuzunehmen scheint. (Hier soll jetzt aber nicht so weit gegangen werden, Thesen von einer regredierenden, infantilisierten Gesellschaft zu diskutieren)
Aber warum wird aus der Kinderperspektive erzählt? Besonders im vorliegenden Fall bekommt das Erzählte dadurch etwas Unerbittliches: Der Leser leidet zwangsläufig mit an der Kinderhölle, durch die der Erzähler genötigt wird, denn Kinder sind, selbst in ihren Gedanken und Gefühlen, abhängiger und können sich nicht wehren. Was nutzt es, den geneigten Leser aufzubringen gegen diese fortwährende Ungerechtigkeitsanhäufung einer fiktiven (?) Vergangenheit? – Das Erzählen aus der Kinderperspektive hat Folgen: Die Reflexionsebene ist äusserst eingeschränkt. Das kann es dem Erzähler einfacher machen, vielleicht gelingt erzählen auch nur so, aber es legt dennoch fest auf diese einfache, naive Sicht. Soll der Leser also die Höllen nachempfinden, die das gequälte Kind seinerzeit erleben musste? Zu welchem Ende? Oder liess, auch das ist möglich und muss dem Autor zugebilligt werden, sich diese Geschichte für ihn nicht anders darstellen? Versucht er sich damit den Alp von der Seele zu schreiben und kann es nur auf diese Weise? Das allerdings wäre das vielleicht beste Argument für diese Wahl der Perspektive und deren Art des Erzählens.
Die Kette der Demütigungen und erlittenen Beschimpfungen ist lang, sie scheint schier endlos. Wie lang ist eine Kindheit?
Gut geschrieben ist das Buch und wie es scheint ebenso übersetzt: Man merkt an keiner Stelle, dass man eine Übersetzung liest.
Erstaunlich, wie es gegen Ende zunehmend Tempo aufnimmt und an Spannung zulegt – es steuert auf den Kulminationspunkt zu. (Wie es endet soll freilich nicht verraten werden)
Der Junge wächst bei den Grosseltern auf, die Grossmutter ist ein abgefeimter Drache und eine Brunnenvergifterin besonderer Güte, ihr Mann, ein kleiner Schauspieler, bietet ihr kaum jemals und niemals ernsthaft Paroli. Auch das wird beschrieben. Und die Mutter des Jungen kommt nur ein, zwei Mal monatlich zu Besuch, bringt Spielzeug mit und gerät mit ekelhafter Regelmässigkeit mit ihrer eigenen Mutter in Kräche, die das Kind miterleben muss. Eine verstrickte Familie, vereint in einer Art ausgerasteter Hassliebe. Die Grossmutter sagt ihrem Pflegling permanent Ungeheuerlichkeiten, darunter Bemerkungen wie die, dass er ein Krüppel und Kadaver ist und sowieso mit 16 sterben wird. Wenn die Mutter gegangen ist, nimmt sie ihm das mitgebrachte Spielzeug ab und wirft es in den Müllschlucker. Auf der anderen Seite verfolgt sie ihn manisch mit medizinischer Überwachung und traktiert ihn auch damit noch in extenso – ob er wirklich so krank ist oder nicht oder ob ihn das Leben bei der Grossmutter krank macht, bleibt offen. Diese trieft vor unangebrachtestem Selbstmitleid und erzählt allen, die es hören oder nicht hören wollen, dass sie sich aufgeopfert hat, diese Floskel kommt häufig vor, – ein Weib, bei dem man bedauern kann, dass die Zeit der Hexenverbrennungen vorbei ist, man sich aber wenigstens nach dem Gebrauch einer grosskalibrigen Waffe sehnt. Eine Erzieherin der furchtbarsten Art, die im Grunde nur ein völlig traumatisiertes Kind hinter sich lassen kann, das den Wunsch hegt in der Wohnung seiner Mutter hinter der Fussleiste begraben zu werden, um ihr endlich nahe sein zu können. – Aber wie schwach sind auch die anderen! Wie schwach sie selbst, dass sie ihren Sohn nicht holt, weil sie Angst vor ihrer Mutter hat. Wie schwach der Grossvater, der sich selbst von seinem Hausdrachen drangsalieren lässt und das irre Spiel, das keines ist, teils doch mitmacht. Und die Grossmutter? Sie zeigt der Tochter in Gegenwart von deren Sohn den nackten Hintern, der ohnehin unappetitlich sein dürfte. Wenn diese fragt: „Womit habe ich dich so gekränkt?“ ist die Antwort: „Du hast mich damit gekränkt, dass ich dir mein ganzes Leben geopfert habe in der Hoffnung, dass etwas aus dir wird.“ Von Beginn an nennt sie ihre Tochter „Missgeburt“, ohnehin ein inflationär gebrauchter terminus technicus in diesem Buch, und sie bricht ihr als Kind durch einen Tritt das Bein, weil sie etwas haben möchte. (S. 207 f.)
Wenn der Junge etwas für die Schule schreibt, kommt sie regelmässig mit der Rasierklinge in der Hand, um Fehler auszumerzen. (Vg. S. 198) Versprechen werden nicht gehalten, Gemeinheiten sind täglich Brot, der Junge nennt seine Mutter „mein Flittchen“, weil er nachspricht, wie die Grossmutter ihre Tochter stets tituliert. Diese fluchende Frau ist selbst ein Fluch, ein Grausamkeitsautomat, der kindliche Held ist ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er schildert seine Kindheit als Martyrium, aber ohne zu klagen oder Larmoyanz.
Widerlich auch, wie sie das Kind manipulieren, auf ihre Seite ziehen und gegen seine Mutter aufhetzen will: „Hör mit gut zu…Sie hat das letzte Mal gesagt, dass ich dich ihr weggenommen habe, und es gab Streit, weisst du noch? Du willst sicher nicht, dass es heute wieder Streit gibt. Wenn sie heute wieder anfängt mit ihren Lügen, stell dich hin und sag klipp und klar: `Das ist nicht wahr!“ Sei kein Jammerlappen, sei ein Mann. Stell dich hin und sag: `Ich will bei Grossmutter wohnen, mir gefällt es hier besser als bei dir!“ Wage es nicht, mich zu verraten! Wage es nicht, Gott zu erzürnen! Wirst du tun, was ich dir gesagt habe? Oder wirst du deine Grossmutter verraten, die so viel Blut für dich lässt?“ (S. 200)
Man kann sich fragen, warum man so etwas extremes lesen sollte – ein Wahnsinn von Frau, eine menschliche Giftspritze spielt die Hauptrolle – und man könnte sich auf den Standpunkt stellen: Das ist mir zu extrem, das ist zu weit von meiner Wirklichkeit weg, als dass es mich etwas angehen könnte.
Andererseits mag es ähnliche Familienverhältnisse geben, möglicher Weise mit zunehmender Tendenz. Aber es gibt auch noch einen anderen Aspekt, auch wenn man diese Frage kaum zu stellen wagt, so taucht sie doch auf: Hat man hier womöglich etwas spezifisch russisches vor sich? Schildert Sanajew etwa keinen ausserordentlichen Einzelfall, sondern etwas Typisches? Der Gedanke kann einem kommen, wenn man an Arkadi Babtschenkos Buch denkt (hier im Blog besprochen: März 2007), der die ebenso unglaubliche und unmenschlich brutale „Herrschaft der alten Männer“ im russischen Militär beschreibt.
Woran man auch kaum rühren möchte: Wie autobiographisch ist das Erzählte? Das ist nicht wichtig für das Buch, aber man kann davon ausgehen, dass man nicht in der Lage ist, sich so etwas auszudenken und zu schreiben, wenn man nichts Vergleichbares erlebt hat oder zumindest kennt.
Jedenfalls ist es gut gemacht. Es ist spannend geschrieben und aufgebaut und es wird – zum Glück! – nicht psychologisiert. Auch wenn einen das Thema nicht zwingend interessiert, packt das Buch seinen Leser doch und nimmt ihn mit, auch wenn er zunächst Vorbehalte und Widerstreben spürt.
Die einzige Person des Buches, die ehrenhaft handelt, (vgl. seinen Brief an die Grosseltern: S. 170 ff.) ist „der Zwerg“, das ist der Freund der Tochter, den die Grosseltern jedoch abgöttisch hassen und um dessentwillen sie ihre Tochter eine Hure nennen. Dieser allerdings bekommt, auch wenn er nicht unwichtig ist, den geringsten Raum im Roman.
Und am gut gemachten, beschleunigten Ende des Buches findet sich wohl einer der unglaublichsten Monologe der Literaturgeschichte, wie es schon insgesamt das
Buch meiner Kenntnis ist, in dem mit grossem Abstand am intensivsten geflucht wird.
Eine rabenschwarze Familiengeschichte, gemäss dem Spruch „Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“? Oder eine Geschichte mit Hoffnung, weil selbst solche Zustände überlebbar sind? Allerdings ist fraglich: Um welchen Preis?
Schrecklich zu lesen, dass der Junge durch die Umstände und seine Überlegungen zu „Leben“ und „Glück“ gezwungen wird, seine Mutter, die er liebt, auszulachen und sie und seine Liebe zu ihr zu verraten: „Es war einfach so, und ich konnte es mir nicht anders vorstellen.“ (S. 198)
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