Alberto Vigevani: „Sommer am See. Eine Erzählung“, aus dem Italienischen von Marianne Schneider, Berlin 2007, (davor Palermo 2001; die Erstveröffentlichung erfolgte 1958), 126 Seiten, 16 Euro
Eine leichte, melancholisch-schöne Sommererzählung vom Beginn des sinnlichen Erwachens eines Mailänder Jungen. Die Stimmung von Ferien und Sommer, das Spiel von Licht und Schatten fängt der Bücherfreund, Verleger und Buchhändler Vigevani (1918-1999) mit sicherer Hand in seinem intensiven, empfindsamen Erzählen ein. Held des Buches ist ein unsportlicher Junge ohne Freunde aber mit Schulschwierigkeiten auf der Schwelle zum Erwachsenwerden und mit einem Hang zur beschaulichen Traurigkeit, wie es im Text heisst es: Er zieht sich zurück und liest, während er vorgibt für die Schule zu lernen. Bücher sind für ihn melancholische Zuflucht (vgl. S. 14), beinahe wollüstig gibt er sich der Einsamkeit hin (vgl. S. 16). Vierzehn ist er, erzählt wird ein Sommer am Comer See in den Dreissiger Jahren. So ungern er turnt oder gar vorturnt, so gern fährt er Rad und rast die Berge am Lago di Como hinunter. Vigevani achtet auf die Atmosphäre und versteht es, sie in kurzen Sätzen hinzutuschen: „Auf der Bank sitzend, lieÜen sie die Eisstückchen im Mund zergehen, dann standen sie auf und schwenkten ein in die Gasse zwischen den roten Fassaden der Häuser und den Gerüchen der Gewürzpflanzen, aufwärts in Richtung freies Feld, wo der Weg steil anstieg.
Bono schwieg: Über die vom Salz versengten Mauern hingen Äste, die sich unter der Last der reifen Früchte bogen. “ (S. 16) Oder, ebenso schön: „Die ersten Ferientage folgten rasch aufeinander wie ein Fieber, das die Wangen erhitzt und dessen Abklingen eine Mattigkeit, ein Gefühl der Schläfrigkeit zurücklässt, und dann wieder Hunger nach neuer Mattigkeit und neuem Schlaf.“ (S. 26)
Ähnliche Stellen finden sich viele in der Erzählung. Gekonnt aber auch und ebenso zaubrisch Raffungen wie „Schnell wurde es Juli.“ (S. 30) oder: „Die Sommertage schmolzen dahin unter der blendenden Hitze.“ (S. 47)
Der heimliche Held des Buches ist die Zeit.
Ihr Vergehen, ihre Dauer, ihre Dehnungen, besondere Momente.
Auf Seite 15 wird berichtet, dass die Zeit lichte Öffnungen kennt, auf Seite 31, dass Zeit nichts Gleichförmiges ist. Sie erscheint dehnbar und der Autor bemerkt auch, dass Zeit und Raum zusammenhängen: „Aber während die Abende in den Lichtern und in den unterdrückten, quälenden Wünschen rasch verglühten, schien in den Stunden, die er über den Schulbüchern verbrachte, die Zeit stillzustehen, auszusetzen. Es waren lange Nachmittage: In der Stille und im Dämmerlicht der angelehnten Fensterläden kam ihm das Haus grösser vor.“ (S. 31)
Umgetrieben und gepeinigt wird Giacomo nicht nur von der Schule und ihren Anforderungen, sondern auch von seinen aufkeimenden Trieben, vom Interesse am anderen Geschlecht. Erste Bekanntschaft mit diesem macht er in der Gestalt des Dienstmädchens. Sensibel beschreibt der Autor die Zartheit dieser Annäherung und ihre Folgen, denn durch die Annäherung scheint sich plötzlich die Schönheit der Frau zu verändern. (Vgl. S. 43) Fast erstaunlich, wie Vigevani rückblickend in der Lage ist, diese Lebensphase und ihre Regungen, ihre Härten und Schönheiten rekonstruierend zu beschreiben und in eine Atmosphäre zeitlos-wehmütiger Schönheit zu stellen. Das Ineinander von früher, noch unsicherer Erfahrung, vom Werden, und später, sprachsicherer Erzählung, der diese pubertäre Welt noch sehr gegenwärtig ist, ist reizvoll.
Auffällig auch die geöffneten Räume, die durch Düfte und Klänge perforiert werden und ihrerseits ihren Teil zur Atmosphäre beitragen; diese schliessen die Verbindung von Innen und Aussen kurz. Träumerisch-romantisch, an Eichendorff erinnernd, werden Drinnen und Draussen über die Brücken von Duft und Klang verbunden, die Räume aufgebrochen und mit der Natur verwoben. Ein Beispiel für alle: „Durch das weit geöffnete Fenster drang ein Widerhall von Tanzmusik.“ (S. 45) Das führt meist eine wehmütig-sehnsüchtige Stimmungslage mit sich.
Nach dem Dienstmädchen begegnet Giacomo einer schönen Ausländerin und ihrem Sohn – und ist vom Fleck weg fasziniert. Wie Vigevani diesen umgekehrten Lolita-Effekt und seine fiebrig-elegischen jugendlichen Phantasien schildert, ist lesenswert. Und auch hier spielt die Zeit wieder eine Rolle, bzw. gerade keine, da Stunden verstrichen, „ohne dass ihm die Zeit bewusst werden konnte.“ (S. 57) Diese Begegnung wird diese Ferien und vielleicht sein Leben prägen.
Das Dienstmädchen, das zunächst wie Erde riecht, nach der Annäherung aber stechend (vgl. S. 43), hat er nicht gern – ihr Körper interessiert ihn. (Vgl. S. 45) Die fremde Mutter dagegen öffnet ein anderes Kapitel des sinnlichen Erwachens: Bei ihr ist er mehr auf Schönheit als auf Lust bedacht (vgl. S. 79) und zur Berührung ihres Körpers kommt es nicht.
Vigevani ist nicht nur ein meisterlicher Schilderer von Atmosphären (vgl. z.B. auch S. 65/ unten und S. 83/3), er findet auch treffende, charakterisierende Bilder. Von einem Mädchen heisst es, „die einen Gang hatte wie ein Ross“(S. 48), von der Engländerin: „Bei den wenigen Schritten, die sie, wie ihm schien, Mühe kosteten, war es, als würde sie gar nicht gehen, sondern sich von etwas Stärkerem schieben lassen.“ (S. 86) Ein so ungewöhnliches wie unmittelbar sinnfälliges Bild.
Natürlich hat man es mit der Upper Class zu tun: Lange Ferien am Comer See – ein viertel Jahr, Dienstmädchen, Villen, Natur und Gefühle. Alles zusammen eine ferne, fremde, traurig-schöne Welt – wenn man sich nicht prinzipiell daran stösst.
Die zarte Erzählung von der Vielschichtigkeit der Liebe (vgl. S. 111) hält den Schlüssel auch an die Erinnerung und Erfahrung des Lesers und öffnet ihm vielleicht die eine oder andere Erinnerung an eigene träumerisch-leichte, an fast schwebend verbrachte Kinder-Sommertage.
Doch ganz ohne Kritik kann man auch dieses liebenswerte Büchelchen nicht entlassen.
Vielleicht ist ein wenig zu oft von Blut die Rede, von Schwindel und Betäubung und Traum. – Schöner wäre gewesen, das zu erzählen als es zu benennen.
Die schätzenswerte Friedenauer Presse macht hübsche Bücher – aber sie sind nicht in festen Deckeln und die Preisgestaltung ist grenzwertig. Man würde sie lieber – und häufiger – kaufen, wenn sie ein paar Euro günstiger wären. 16 Euro – über 30 Mark – für ein kleines Buch von gut 100 Seiten ist ein stolzer Preis.
Zumal, das kommt noch dazu, sind die Bücher – etwa durch den Papierumschlag – zwar nett anzusehen, aber äusserst empfindliche Wesen und nicht ohne Fehler im Inneren, was immer ärgerlich ist.
Neben Schreibfehlern finden sich sogar Stilblüten, was schwerer wiegt.
„Trepppe“ (S. 46) liest man oder „verfärbendenden“ (S. 80), ein „das“ ist zu viel (S. 71) oder es steht da „hattenm“. Das und noch mehr ist unschön. Aber „Die Ausländer hatten sich vermehrt (…)“ (S. 49) – gemeint ist: Sie sind zahlreicher in Erscheinung getreten – ist unfreiwillig komisch. Ebenso wie „Es regnete ihm in den Hals“ (S. 96), was Assoziationen weckt, die nicht der Intention entsprechen. Und das ist schade. Vielleicht lässt sich derlei für die nächste Auflage korrigieren.
Trotzdem ein lesens- und liebenswertes Buch, in dem Abschied nicht nur von der Kindheit genommen wird, sondern vielleicht auch von der lobenswerten Institution der Sommerfrische, die es damals noch gab und in gewisser Weise auch von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die in diesem Buch fast entrückt wirkt. Letztlich wird mit der Beziehung zu Andrew und seiner Mutter auch von einer kindlichen Unschuld Abschied genommen, die von der Verbindung zwischen Liebe und Verrat noch nichts ahnte, sich nun aber gleich damit konfrontiert sieht. So passt die Lieblingsmusik der Kinder und Jugendlichen zur Grundstimmung des gesamten Buches: Der Blues.
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