William Henry Hudson: „Müssige Tage in Patagonien“, aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt, Original-Titel: „Idle days in Patagonia“, Butjadingen Mai 2007, 239 S., 18 Euro
W. H. Hudson lebte vom August 1841 bis zum August 1922. Er war der Sohn anglo-amerikanischer Eltern, geboren in der Provinz Buenos Aires. Sein Vater war ein wenig erfolgreicher Schafzüchter und Geschäftsmann. 1869 ging Hudson, geprägt vom Misserfolg und sozialen Abstieg der Eltern, die sich zuletzt als Kartoffelzüchter versuchen mussten, nach London, wo weitere Jahre in Armut und nun auch Einsamkeit folgten. Er begann zu schreiben. Als sein bekanntester Roman gilt „Green Mansions“ von 1904, als sein bekanntestes nicht fiktionales Buch „Far away and long ago“ von 1918. Erst im Jahr 1900 heiratete Hudson und wurde britischer Staatsbürger. Er war Gründungsmitglied der „Royal Society for the Protection of Birds“. Heute gilt er als argentinischer Nationalautor, ist aber in England begraben. Virginia Woolf schätzte und lobte ihn und er war Hemingways Lieblingsautor, selbst fühlte er sich Joseph Conrad geistesverwandt.
Dies ist ein merkwürdiges Buch, man weiss nicht so recht was man vor sich hat. Das kann zu falschen Erwartunghaltungen und Enttäuschungen führen, ebenso gut auch zu positiven Überraschungen. Einerseits ähnelt es den Notizen eines reisenden Naturforschers. Vögel, Tiere und Pflanzen werden beobachtet und beschrieben und mit ihren lat. Namen genannt. Andererseits lässt es in manchen Passagen auch an ein fiktives Werk denken, Erzählungen reihen sich aneinander, auch Erzählungen von gehörten Geschichten, die wegen ihrer Merkwürdigkeit oder einer anderen Besonderheit wiedergegeben werden. Dann ist das Buch aber auch durchzogen von reflexiven Stellen, die sich mit den verschiedensten Gegenständen beschäftigen und auch tendenziell Abhandlungs- oder Essaycharakter annehmen. Und nicht zuletzt ist es das Werk eines Mannes, der auch gern einmal zur Waffe greift und seine Zeit mit langen Streifzügen in der Natur müssig zu füllen weiss.
Wichtig hinter all dem scheint dieser Müssiggang zu sein, der auch bereits im Titel genannt ist. Dass dieser auch in seinem Fall Anfang aller Laster sein kann, wird immerhin nicht verschwiegen. Er ärgert ohne Not Blässhühner (vgl. S. 125) und Blattschneiderameisen (vgl. S. 126 ff.), ja er zündet aus purem Mutwillen einen Busch an, nur um ihn verbrennen zu sehen. Und ist um die passende Reflexion nicht verlegen: „Aber welches Motiv hatte ich, als ich diesen blühenden Busch in Brand steckte, der weder rackerte noch umhertollte, diese langsam wachsende Pflanze, nutzlos unter Pflanzen, so wie ich unter meinen Mitmenschen? Ist es nicht so, dass etwas vom Geist unserer äffischen Vorfahren immer noch in uns fortdauert?“ (S. 130)
Immerhin, der Autor dieses disparaten Buches ist fähig zur Selbstkritik und hat Darwin gelesen.
Einem bestimmten Genre ist das Werk also schwerlich zuzuordnen. Man kann manches darin finden, auch Stellen, die einem das Fortsetzen der Lektüre nicht leicht machen oder sogar einigen guten Willen fordern, es zu tun. Andererseits sind auch viele spannende Seiten im Buch enthalten. In jedem Fall zeigt sich hier einer, den man mit Lichtenberg einen „Selbstdenker“ nennen muss, was nicht wenig ist.
An wenigstens drei Stellen erinnert das Buch an den aktuellen Film „Into the wild“ von Sean Penn.
„Meines Erachtens ist nichts so ergötzlich im Leben wie das Gefühl der Entspannung, des Entrinnens und der vollkommenen Freiheit, das man in einer weiten Einöde erfährt, wo der Mensch vielleicht noch nie gewesen war und jedenfalls keine Spur seines Daseins hinterlassen hat.“ (S. 12 f.) Das könnte auch etwas sein, das der jugendlich-naive Held des Films, McCandless, gerne gelesen oder gesagt hätte. Nicht ganz so vielleicht das Folgende:
„Für einen, der in der Ebene geboren wurde und aufwuchs, ist die ferne Gebirgskette immer eine Region der Verzauberung; wenn er sie erreicht, ist der Glanz dahin; die opalisierenden Farbtöne und die blauen, ätherischen Schatten des Mittags, die violetten Farben des Sonnenuntergangs sind verschwunden. Ausser einem ungeschlachten Gewirr aufgetürmter Felsen gibt es danach nichts mehr; doch obwohl es nicht das ist, was er erwartet hatte, zieht er schliesslich die Rauheit des Gebirges der Eintönigkeit der Ebene vor.“ (S. 87) Hier wirkt Hudson McCandless bereits um Längen voraus. Natürlich hat Hudson mit diesem Film nicht das geringste zu tun – ausser, dass etwas Ähnliches formuliert wird, ein bestimmter Umgang mit, ein bestimmtes Verhältnis zur Natur. Oder besser eine Erfahrungsweise von Natur, die vielleicht früher nur bedingt viele und seitdem abnehmend weniger Menschen zur Verfügung steht: Das Ergriffensein von Natur, die Erfahrung des ihr Ausgesetztseins – bzw. der Wille, sich ihr auszusetzen. Natur wird als enorme urtümliche Kraft erfahren, die auf uns und unser Erleben einen Einfluss haben kann, wenn wir offen für diese Erfahrung sind. Was Hudson formuliert, kann gelesen werden als Kritik an der Eroberung und Zerstörung der Natur durch den Weissen Mann. Der Müssiggang, den er vorzieht, ist das nicht eine urtümlichere Art zu sein, eine, die die vermeintlich „Wilden“ noch kannten und konnten – und die er erst wieder erlernen oder an die er sich erinnern muss? Ein Zustand also, in dem, wie er meint, die Instinkte wiederkehren.
Ausführlich und nicht immer spannend, denkt Hudson etwa nach über den Vogelgesang und das Sehen bzw. sein Organ. Er ist offenbar ein sinnlicher Mensch. Gleichzeitig bezieht er sich wiederholt auf Literatur und kritisiert etwa Charles Darwin mehrfach (vgl. S. 131, S. 142).
Dann finden sich wieder poetische Passagen wie diese: „Unser Wachleben ist manchmal wie ein Traum, der ziemlich logisch vor sich geht, bis der Reiz einer neuen Empfindung, die von aussen oder innen kommt, ihn zeitweise in Verwirrung stürzt oder seine Wirkung ausser Kraft setzt; wonach er wieder fortfährt, doch mit neuen Charakteren, Leidenschaften und Motiven und einem veränderten Thema.“ (S. 24)
Oder „Es kommt mir seltsam vor, dass die Inkas, soweit wir es wissen, die einzigen waren, die den Regenbogen anbeteten.“ (S. 53)
Gleichzeitig schiesst er ohne mit der Wimper zu zucken grundlos auf einen Kondor. (Vgl. S. 55 f.)
Dann wieder widmet er dem Bericht über das Verhältnis zu dem Apportierhund Major viel Raum, der in die Verbannung geschickt wurde, wegen eines Charaktermangels und betreibt dessen teilweise Rehabilitation. (Vgl. S. 57 ff.)
Und er fügt die Erzählung von über 70 argentinischen Farmern an, die mit Glück und Geschick eine grosse brasilianische Übemacht zur Strecke brachten. (Vgl. S. 88 ff.)
Und es folgt Damians Schicksal, der Jahrzehnte als halber Gefangener bei Indianern zubrachte und dem weder dieser Aufenthalt noch die späte Rückkehr in die Ursprungsgesellschaft gut anschlug.
Dann kommt das, sicher von seiner Melville-Lektüre angeregte, Nachdenken über „Schnee und die Eigenschaft der Weisse“. (Vgl. S. 102 ff.)
Einmal liest man etwas über Animismus, dann darüber, dass Patagonien ideal sei bei Asthma, über die Kunst des Gummi-Kauens oder den scheuen Nager „Oculto“. Allerdings wirkt das im Lauf der Erzählung weniger wild, als es in der Aufzählung erscheinen mag.
Er neigt nicht zum Überhöhen seines Tuns, er besteht auf dessen Nutzlosigkeit.
Dieses Verabscheuen des utilitaristischen Prinzips macht ihn zu einem Modernen, ja man könnte in ihm einen frühen Kritiker eines DER westlichen Grundsätze sehen, der die Welt erobern und Vieles an Natur und Kultur zerstören half. So erinnert das was er schreibt auch an Petri Tamminens „Verstecke“-Buch, wenn er äussert: „Es war meine Gewohnheit, jeden Morgen mit meinem Gewehr zu Pferde loszuziehen und, von einem Hund gefolgt, aus dem Tal heraus zu reiten; und sobald ich die Terrasse erklommen hatte und in das graue, allumfassende Dickicht eingetaucht war, fühlte ich mich vollständig allein und von jeglichem Blick und Laut menschlicher Besitzergreifung abgeschnitten, (…).“ (S. 189)
Zumindest eines ist in diesem Buch hochinteressant und so woanders selten oder nicht zu lesen: Das Verhältnis zur Natur und zur Erfahrung in und mit der Natur. Und zwar in der Feststellung, dass etwas umso lebendiger im Gedächtnis bleibt, je tiefer unsere Gefühle berührt wurden. (Vgl. S. 188) Eine Erfahrung, die ja vielleicht Vielen noch zugänglich ist. Er beschreibt das in der Natur Unterwegssein und seine Wirkungen sehr genau, er sieht darin interessanter Weise einen Geisteszustand, in dem Denken unmöglich geworden ist. (Vgl. S. 194) Sein Zustand ist der des Stillstands und der Wachsamkeit, gleichzeitig von freudiger Erregung geprägt. (Vgl. ebd.) Diesen Wechsel deutet er als Rückkehr zu „unzivilisierten Geisteszuständen“. (Vgl. S. 195) Hierin drückt sich sowohl eine Erfahrung wie eine Sehnsucht aus. Wiederum erinnert es an McCandless, was Hudson schreibt: „Zweifelsohne sind wir in der Einsamkeit nicht alle von der wilden Natur in gleichem Masse berührt; selbst in den patagonischen Einöden würden viele wahrscheinlich nicht derartige geistige Veränderungen erfahren, wie ich sie beschrieben habe.“ (S. 205) Diese Einsamkeit sucht er und sieht in ihr auch die Begeisterung der Kinder beim Betreten von Wäldern oder beim Suchen von Nahrung in der Natur gespiegelt. (Vgl. S. 198 f.) Und er vertritt die Ansicht, „(…) dass der Verlust bei unserem Abschied von der Natur den Gewinn übersteigt“. (S. 199) Das ist zu seiner Zeit, als man noch mit sehr viel mehr Recht einem Fortschrittsglauben anhängen konnte als heute, eine ungewöhnliche Sichtweise. Aber es ist eine ehrliche Meinung. Nur: Was können wir Heutigen daraus machen? Klar ist: McCandless ist keine Figur, der man nacheifern möchte, Thoreau, den Hudson häufig zitiert, scheint auch nur für ein paar Wenige ein wirksames Modell geliefert zu haben – und wo gäbe es überhaupt heute noch so viel ausreichend unberührte Natur, um ein naturnäheres Leben führen zu können? Ja wäre es nicht ein Alptraum, wenn man sich vorstellte, dass plötzlich der Drang in die freie Natur zur Massenbewegung würde? – Wäre aber andererseits eine Naturerfahrung, wie sie Hudson macht und beschreibt nicht für Viele nötig, um ihnen wieder ein Gefühl für Natur zu geben und damit einen Grund, diese, also auch die eigene Grundlage, nicht immer weiter aus Gewinnmaximierungsgründen rückhaltlos zu zerstören?
Das ist nur ein Aspekt des Buches, vielleicht nicht einmal der dominierende. Man kann es auch ganz anders lesen und anderes in den Vordergrund stellen.
Im Text finden einige Schreibfehler und die Seiten sind nach innen hin zu weit bedruckt, was das Lesen behindert und ein ständiges, anstrengendes und lästiges Aufdrücken des Buches nötig macht.
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