William Henry Hudson: „Müssige Tage in Patagonien“

William Henry Hudson: „Müssige Tage in Patagonien“, aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt, Original-Titel: „Idle days in Patagonia“, Butjadingen Mai 2007, 239 S., 18 Euro

W. H. Hudson lebte vom August 1841 bis zum August 1922. Er war der Sohn anglo-amerikanischer Eltern, geboren in der Provinz Buenos Aires. Sein Vater war ein wenig erfolgreicher Schafzüchter und Geschäftsmann. 1869 ging Hudson, geprägt vom Misserfolg und sozialen Abstieg der Eltern, die sich zuletzt als Kartoffelzüchter versuchen mussten, nach London, wo weitere Jahre in Armut und nun auch Einsamkeit folgten. Er begann zu schreiben. Als sein bekanntester Roman gilt „Green Mansions“ von 1904, als sein bekanntestes nicht fiktionales Buch „Far away and long ago“ von 1918. Erst im Jahr 1900 heiratete Hudson und wurde britischer Staatsbürger. Er war Gründungsmitglied der „Royal Society for the Protection of Birds“. Heute gilt er als argentinischer Nationalautor, ist aber in England begraben. Virginia Woolf schätzte und lobte ihn und er war Hemingways Lieblingsautor, selbst fühlte er sich Joseph Conrad geistesverwandt.


Dies ist ein merkwürdiges Buch, man weiss nicht so recht was man vor sich hat. Das kann zu falschen Erwartunghaltungen und Enttäuschungen führen, ebenso gut auch zu positiven Überraschungen. Einerseits ähnelt es den Notizen eines reisenden Naturforschers. Vögel, Tiere und Pflanzen werden beobachtet und beschrieben und mit ihren lat. Namen genannt. Andererseits lässt es in manchen Passagen auch an ein fiktives Werk denken, Erzählungen reihen sich aneinander, auch Erzählungen von gehörten Geschichten, die wegen ihrer Merkwürdigkeit oder einer anderen Besonderheit wiedergegeben werden. Dann ist das Buch aber auch durchzogen von reflexiven Stellen, die sich mit den verschiedensten Gegenständen beschäftigen und auch tendenziell Abhandlungs- oder Essaycharakter annehmen. Und nicht zuletzt ist es das Werk eines Mannes, der auch gern einmal zur Waffe greift und seine Zeit mit langen Streifzügen in der Natur müssig zu füllen weiss.
Wichtig hinter all dem scheint dieser Müssiggang zu sein, der auch bereits im Titel genannt ist. Dass dieser auch in seinem Fall Anfang aller Laster sein kann, wird immerhin nicht verschwiegen. Er ärgert ohne Not Blässhühner (vgl. S. 125) und Blattschneiderameisen (vgl. S. 126 ff.), ja er zündet aus purem Mutwillen einen Busch an, nur um ihn verbrennen zu sehen. Und ist um die passende Reflexion nicht verlegen: „Aber welches Motiv hatte ich, als ich diesen blühenden Busch in Brand steckte, der weder rackerte noch umhertollte, diese langsam wachsende Pflanze, nutzlos unter Pflanzen, so wie ich unter meinen Mitmenschen? Ist es nicht so, dass etwas vom Geist unserer äffischen Vorfahren immer noch in uns fortdauert?“ (S. 130)
Immerhin, der Autor dieses disparaten Buches ist fähig zur Selbstkritik und hat Darwin gelesen.
Einem bestimmten Genre ist das Werk also schwerlich zuzuordnen. Man kann manches darin finden, auch Stellen, die einem das Fortsetzen der Lektüre nicht leicht machen oder sogar einigen guten Willen fordern, es zu tun. Andererseits sind auch viele spannende Seiten im Buch enthalten. In jedem Fall zeigt sich hier einer, den man mit Lichtenberg einen „Selbstdenker“ nennen muss, was nicht wenig ist.
An wenigstens drei Stellen erinnert das Buch an den aktuellen Film „Into the wild“ von Sean Penn.
„Meines Erachtens ist nichts so ergötzlich im Leben wie das Gefühl der Entspannung, des Entrinnens und der vollkommenen Freiheit, das man in einer weiten Einöde erfährt, wo der Mensch vielleicht noch nie gewesen war und jedenfalls keine Spur seines Daseins hinterlassen hat.“ (S. 12 f.) Das könnte auch etwas sein, das der jugendlich-naive Held des Films, McCandless, gerne gelesen oder gesagt hätte. Nicht ganz so vielleicht das Folgende:
„Für einen, der in der Ebene geboren wurde und aufwuchs, ist die ferne Gebirgskette immer eine Region der Verzauberung; wenn er sie erreicht, ist der Glanz dahin; die opalisierenden Farbtöne und die blauen, ätherischen Schatten des Mittags, die violetten Farben des Sonnenuntergangs sind verschwunden. Ausser einem ungeschlachten Gewirr aufgetürmter Felsen gibt es danach nichts mehr; doch obwohl es nicht das ist, was er erwartet hatte, zieht er schliesslich die Rauheit des Gebirges der Eintönigkeit der Ebene vor.“ (S. 87) Hier wirkt Hudson McCandless bereits um Längen voraus. Natürlich hat Hudson mit diesem Film nicht das geringste zu tun – ausser, dass etwas Ähnliches formuliert wird, ein bestimmter Umgang mit, ein bestimmtes Verhältnis zur Natur. Oder besser eine Erfahrungsweise von Natur, die vielleicht früher nur bedingt viele und seitdem abnehmend weniger Menschen zur Verfügung steht: Das Ergriffensein von Natur, die Erfahrung des ihr Ausgesetztseins – bzw. der Wille, sich ihr auszusetzen. Natur wird als enorme urtümliche Kraft erfahren, die auf uns und unser Erleben einen Einfluss haben kann, wenn wir offen für diese Erfahrung sind. Was Hudson formuliert, kann gelesen werden als Kritik an der Eroberung und Zerstörung der Natur durch den Weissen Mann. Der Müssiggang, den er vorzieht, ist das nicht eine urtümlichere Art zu sein, eine, die die vermeintlich „Wilden“ noch kannten und konnten – und die er erst wieder erlernen oder an die er sich erinnern muss? Ein Zustand also, in dem, wie er meint, die Instinkte wiederkehren.

Ausführlich und nicht immer spannend, denkt Hudson etwa nach über den Vogelgesang und das Sehen bzw. sein Organ. Er ist offenbar ein sinnlicher Mensch. Gleichzeitig bezieht er sich wiederholt auf Literatur und kritisiert etwa Charles Darwin mehrfach (vgl. S. 131, S. 142).
Dann finden sich wieder poetische Passagen wie diese: „Unser Wachleben ist manchmal wie ein Traum, der ziemlich logisch vor sich geht, bis der Reiz einer neuen Empfindung, die von aussen oder innen kommt, ihn zeitweise in Verwirrung stürzt oder seine Wirkung ausser Kraft setzt; wonach er wieder fortfährt, doch mit neuen Charakteren, Leidenschaften und Motiven und einem veränderten Thema.“ (S. 24)
Oder „Es kommt mir seltsam vor, dass die Inkas, soweit wir es wissen, die einzigen waren, die den Regenbogen anbeteten.“ (S. 53)
Gleichzeitig schiesst er ohne mit der Wimper zu zucken grundlos auf einen Kondor. (Vgl. S. 55 f.)
Dann wieder widmet er dem Bericht über das Verhältnis zu dem Apportierhund Major viel Raum, der in die Verbannung geschickt wurde, wegen eines Charaktermangels und betreibt dessen teilweise Rehabilitation. (Vgl. S. 57 ff.)
Und er fügt die Erzählung von über 70 argentinischen Farmern an, die mit Glück und Geschick eine grosse brasilianische Übemacht zur Strecke brachten. (Vgl. S. 88 ff.)
Und es folgt Damians Schicksal, der Jahrzehnte als halber Gefangener bei Indianern zubrachte und dem weder dieser Aufenthalt noch die späte Rückkehr in die Ursprungsgesellschaft gut anschlug.
Dann kommt das, sicher von seiner Melville-Lektüre angeregte, Nachdenken über „Schnee und die Eigenschaft der Weisse“. (Vgl. S. 102 ff.)
Einmal liest man etwas über Animismus, dann darüber, dass Patagonien ideal sei bei Asthma, über die Kunst des Gummi-Kauens oder den scheuen Nager „Oculto“. Allerdings wirkt das im Lauf der Erzählung weniger wild, als es in der Aufzählung erscheinen mag.
Er neigt nicht zum Überhöhen seines Tuns, er besteht auf dessen Nutzlosigkeit.
Dieses Verabscheuen des utilitaristischen Prinzips macht ihn zu einem Modernen, ja man könnte in ihm einen frühen Kritiker eines DER westlichen Grundsätze sehen, der die Welt erobern und Vieles an Natur und Kultur zerstören half. So erinnert das was er schreibt auch an Petri Tamminens „Verstecke“-Buch, wenn er äussert: „Es war meine Gewohnheit, jeden Morgen mit meinem Gewehr zu Pferde loszuziehen und, von einem Hund gefolgt, aus dem Tal heraus zu reiten; und sobald ich die Terrasse erklommen hatte und in das graue, allumfassende Dickicht eingetaucht war, fühlte ich mich vollständig allein und von jeglichem Blick und Laut menschlicher Besitzergreifung abgeschnitten, (…).“ (S. 189)

Zumindest eines ist in diesem Buch hochinteressant und so woanders selten oder nicht zu lesen: Das Verhältnis zur Natur und zur Erfahrung in und mit der Natur. Und zwar in der Feststellung, dass etwas umso lebendiger im Gedächtnis bleibt, je tiefer unsere Gefühle berührt wurden. (Vgl. S. 188) Eine Erfahrung, die ja vielleicht Vielen noch zugänglich ist. Er beschreibt das in der Natur Unterwegssein und seine Wirkungen sehr genau, er sieht darin interessanter Weise einen Geisteszustand, in dem Denken unmöglich geworden ist. (Vgl. S. 194) Sein Zustand ist der des Stillstands und der Wachsamkeit, gleichzeitig von freudiger Erregung geprägt. (Vgl. ebd.) Diesen Wechsel deutet er als Rückkehr zu „unzivilisierten Geisteszuständen“. (Vgl. S. 195) Hierin drückt sich sowohl eine Erfahrung wie eine Sehnsucht aus. Wiederum erinnert es an McCandless, was Hudson schreibt: „Zweifelsohne sind wir in der Einsamkeit nicht alle von der wilden Natur in gleichem Masse berührt; selbst in den patagonischen Einöden würden viele wahrscheinlich nicht derartige geistige Veränderungen erfahren, wie ich sie beschrieben habe.“ (S. 205) Diese Einsamkeit sucht er und sieht in ihr auch die Begeisterung der Kinder beim Betreten von Wäldern oder beim Suchen von Nahrung in der Natur gespiegelt. (Vgl. S. 198 f.) Und er vertritt die Ansicht, „(…) dass der Verlust bei unserem Abschied von der Natur den Gewinn übersteigt“. (S. 199) Das ist zu seiner Zeit, als man noch mit sehr viel mehr Recht einem Fortschrittsglauben anhängen konnte als heute, eine ungewöhnliche Sichtweise. Aber es ist eine ehrliche Meinung. Nur: Was können wir Heutigen daraus machen? Klar ist: McCandless ist keine Figur, der man nacheifern möchte, Thoreau, den Hudson häufig zitiert, scheint auch nur für ein paar Wenige ein wirksames Modell geliefert zu haben – und wo gäbe es überhaupt heute noch so viel ausreichend unberührte Natur, um ein naturnäheres Leben führen zu können? Ja wäre es nicht ein Alptraum, wenn man sich vorstellte, dass plötzlich der Drang in die freie Natur zur Massenbewegung würde? – Wäre aber andererseits eine Naturerfahrung, wie sie Hudson macht und beschreibt nicht für Viele nötig, um ihnen wieder ein Gefühl für Natur zu geben und damit einen Grund, diese, also auch die eigene Grundlage, nicht immer weiter aus Gewinnmaximierungsgründen rückhaltlos zu zerstören?
Das ist nur ein Aspekt des Buches, vielleicht nicht einmal der dominierende. Man kann es auch ganz anders lesen und anderes in den Vordergrund stellen.
Im Text finden einige Schreibfehler und die Seiten sind nach innen hin zu weit bedruckt, was das Lesen behindert und ein ständiges, anstrengendes und lästiges Aufdrücken des Buches nötig macht.


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6 Antworten zu „William Henry Hudson: „Müssige Tage in Patagonien““

  1. Avatar von uwe
    uwe

    Ein tolles Buch.
    Bei aller Traditionalität der erzählerischen Mittel so modern in der Geisteshaltung, mit der hier ein fremder Kontinent betreten, erfahren und beschrieben wird.
    Ein „Selbstdenker“, wie du schon anmerktest, und deshalb haben mich auch jene Kapitel eher gelangweilt, in denen er diese Souveränität der eigenen Erkenntnisposition an den hehren Gröߟen der Naturforschung zu messen versucht. Da geht es ihm dann eher ums Rechthaben oder um die Ergänzung tradierter Erkenntnisse und nicht so sehr um die Originalität und Einzigartigkeit seiner Naturerfahrung. Denn das ist die eigentliche Stärke seiner Texte: die Beschreibung einer Haltung gegenüber der „wilden“ Natur, welche versucht, die Balance zu halten zwischen Rationalität und Instinkt, zwischen begrifflichem Denken und anschaulichem Sichanheimstellen, eine Balance, die zuweilen sogar aufgegeben wird, so dass der „wilde Mann“ in ihm das Regiment zu übernehmen scheint. Die Passagen, die Kapitel, in denen er diese Momente der Erregung, diese „ursprünglichen Geisteszustände“ beschreibt, in die er angesichts dieser Natur immer wieder gerät, gehören zum Beeindruckendsten, was ich bisher dazu gelesen habe. Es sind präzise Zustandsbeschreibungen, in denen er die Wirkungen der patagonischen Natur auf ihn wiedergibt, jene seltsamen Zustände, in denen die vertraute Identität verloren zu gehen scheint und der Autor betont, in eine instinktive oder primitive Gemütslage und Geistesverfassung zurückgekehrt zu sein. Um die Freilegung dieses „verborgenen feurigen Kerns“ ist es ihm gelegen und er nutzt alle erzählerischen Mittel, um diese Zustände so genau, so plastisch und doch auch fremd-vertraut wie möglich darzustellen. Und was für eine Detailversessenheit er dabei an den Tag legt, in immer neuen sprachlichen Anläufen zu versuchen, das Besondere und zugleich Ursprüngliche seines Erlebens zu erfassen und für den Leser nachvollziehbar zu machen. Das ist es, was mich vor allem überrascht und überzeugt hat: die sprachliche Arbeit, die er leistet, um diesen „Instinktzustand des menschlchen Geistes“ wiederzugeben und in anschaulichen Worten und Formulierungen vor das innere Auge des Lesers zu stellen.
    Und davon lenken, wie schon gesagt, jene Kapitel ein wenig ab, in denen er sich an anderen Schriftstellern misst, in denen er sich als Wissenschaftler auf einem Niveau eines Darwin zu etablieren versucht. Aber überall da, wo er sich der Beschreibung und Analyse seiner Erfahrungen und Empfindungen angesichts der besonderen patagonischen Wildnis widmet, überzeugte er mich, nahm ich ihn fast als einen Zeitgenossen von mir wahr.
    Interessant wäre zu wissen, in welchem Kontext seine Meinungen hinsichtlich des Geisteszustandes des Wilden und wie dieser auch im aufgeklärt-rationalen Wissenschaftsmenschen wieder auftauchen kann stehen und wie isoliert er mit diesen Ansichten in seiner Zeit stand. Wenn ich mich recht erinnere, haben ihn die französischen Surrealisten, allen voran Breton und auch Artaud, rezipiert, was nicht verwundert: Auch diese suchten ja über- bzw. vorrationale Bewuߟtseinszustände zu aktivieren, und fürs Leben, aber auch für die künstlerische Arbeit, die Untiefen des Instinktiven auszuschöpfen. Das muss nicht mit Hudsons Gedanken konform gehen, vielmehr ist es Breton hierbei um eine Ahnengalerie von Surrealisten avant la lettre zu tun.
    Neben dieser Thematik, die meine Lektüre vor allem bestimmte, waren es noch der Detailreichtum des Erinnerten, was mich faszinierte. Wie umfassend und genau er die Tage beschreiben kann, womit er sie sich vertrieb, was er sah, hörte, roch – eine ungeure Memorierungsleistung und noch dazu eine, die durch eine sehr anschauliche Sprache das Geschilderte dem Leser vergegenwärtigt. Man denke hierbei an die Ausflüge, auf denen er die Regenbögen oder Sonnenuntergänge beschreibt und die originellen Vogelpirschepisoden: präzise und unterhaltsam zugleich. Schön, dass ihn der Müssiggang zu einem solch interesanten Buch ver-führen konnte. Hab‘ Dank für den Tipp. Mehr davon!

  2. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ich frage mich (und Dich) ob es vielleicht von einem sehr heutigen Standpunkt aus geurteilt ist – und deswegen nicht ganz gerecht – „die Originalität und Einzigartigkeit seiner Naturerfahrung“ – die ihm ja vielleicht oder gar wahrscheinlich so nicht vorkam – auszuspielen gegen seine naturwissenschafltichen Interessen – die ihm selbst vielleicht sogar wichtiger waren.

    Dennoch teile ich natürlich den Eindruck, dass für uns heute die Stärke seiner Texte auf der Formulierung des Zustandes liegt, den er in der Natur erfährt.

    Dabei von „Detailversessenheit“ zu sprechen, scheint mir nicht ganz die richtige Vokabel. Ich vermute, dass es für ihn nicht Versessenheit, sondern Normalität oder Notwendigkeit war.

    Du bist erstaunt über seine Memorierungsliestung und lobst sie – aber es könnte ja schlicht sein, dass er Tagebücher geführt hat?!

    Gegen die Kritik, er wolle sich als Schriftsteller auf dem Niveau eines Darwin profilieren, wollte ich einwenden, dass ich den Eindruck so nciht hatte. – Er kennt ihn, bedenkt ihn, teilt dessen Interessen und macht kritische Anmerkungen dazu. Ja, auch solche, die mal rechthaberisch daherkommen. Aber mehr doch nicht, oder?

    Beim Lob der spraclichen Arbeit ist selbstverständlich zu bedenken, dass wir eine ߜbersetzung lesen. Evtl. wäre dann auch diese zu loben.

    ߜber die Rezeption durch die Surrealisten weiߟ ich nichts, das würde mich aber interessieren. Da wäre ich für Informationen und Hinweise dankbar.
    Dass er für sie in manchen Phasen passend gewesen sein könnte, ist einleuchtend.

  3. Avatar von uwe
    uwe

    Selbstverständlich nehme ich mir als Leser das Recht, den Autor mir nahe zu rücken, insofern ist in meiner Lesart eine gute Portion Anverwandlung und Inbesitznahme. Aber welche Rezeption ist ganz frei davon? Wir nehmen uns, was uns angeht!

    Und gegeneinander ausspielen, was für ihn sicherlich zusammengehörte, wollte ich nichts, nur herausstellen, was mich mehr fasziniert hat, und das war eher der „Wilde“ in ihm als der gelehrte Forscher. Ohnehin gibt er immer wieder zu bedenken, dass man sich durch Denken nicht der Naturerfahrung nähern könne, wie der „Wilde“ sie hatte. Er gibt also ganz bewuߟt eingenommene Positionen auf, um zu anderen Geisteszuständen zu gelangen. Die Originalität einer solchen Position kann ich nicht beurteilen, deshalb fragte ich nach dem Kontext und die Meinungen seiner Zeitgenossen. Ich fand sein Motto „Erprobe Patagonien“ sehr sympathisch und auch, dass er bei aller Wertschätzung und Freisetzung des „Wilden“ in sich nicht übersah, dass sich darin oft auch nur „äffische“ Bübereien und Grausamkeiten artikulieren. Auch davon hast du berichtet.

    Mit „Detailbessenheit“ meinte ich vor allem die Sprachschleifen, die immer wieder neuen und dann im nächsten Versuch auch präziseren Beschreibungen des erwähnten Geistes- und Gemütszustandes. Aber auch die groߟe Zahl der Unterscheidungsmerkmale hinsichtlich der beschriebenen Vogellaute künden für mich von einem liebenden Blick fürs Detail, d.h. letztlich für die unendliche Fülle der Natur.

    An die Surrealisten musste ich unwillkürlich denken. Ich glaubte mich zu erinnern, in einem Buch von Breton einmal den Namen gelesen zu haben. Auch Artauds ethnologische Anverwandlungen kamen mir in den Sinn. Ich müsste es im Hinterkopf behalten und bei Gelegenheit überprüfen. Doch passen würde er, etwa wenn er den instinktiven Geisteszustand beschreibt als einen „Zustand groߟer Wachsamkeit oder eher wacher Vorsicht, wobei die höheren geistigen Fähigkeiten auߟer Kraft gesetzt sind“ (200). Da sind die Tiefen des Geistes nicht weit, zu denen die Surrealisten vordringen wollten. Trotzdem, es bleibt eine Vereinnahmung, eine idiosynkratische Rezeption, die mehr über den Rezipienten als über das Rezipierte aussagt. Ich fand es interessant, dass ich daran aber noch erinnern konnte. Belegstellen muss ich jedoch noch schuldig bleiben. Vielleicht bei anderer Gelegenheit. Und da wäre ja auch noch die gesamte sog. „Primitivismus“-Rezeption und „Negerkunst“-Thematik in den ersten Dekaden des 20. Jhs. Aber das hier ist kein Oberseminar. Aber assoziieren dürfen wir ja.

  4. Avatar von Helmut
    Helmut

    Nichts für ungut, aber das ist doch ein für meine Begriffe so nicht tragbares oder grenzwertiges Vorgehen:

    „Wenn ich mich recht erinnere, haben ihn die französischen Surrealisten, allen voran Breton und auch Artaud, rezipiert, was nicht verwundert: (…).“
    Und bezüglich Bretons: „Ahnengalerie avant la lettre“

    ist für mich etwas GANZ anderes, als man wird assoziieren dürfen und wir sind hier nicht im Oberseminar.

    Das ist richtig, sind wir nicht – den Anspruch hat auch keiner erhoben.
    Aber freie Assoziation und eine behauptete Rezeption darf man dennoch trennen.
    „Würde passen“ ist etwas anderes als eine stattgefunden habende Rezeption. Zumal bei einem studierten Wissenschaftler sollte man diese Unterscheidung doch voraussetzen dürfen.
    Pardon, aber das musste ich in dem Zusammenhang schon mal anmerken, das hat etwas mit intellektueller Redlichkeit zu tun. Erinnerung an etwas oder ausdenken von etwas sind nicht das gleiche.

    ߜber Meinungen von Zeitgenossen zu Hudson weiߟ ich leider nichts – doch das könnte man evtl. recherchieren.

    Was Du über den „Wilden“ und die Details schreibst: Er war offenbar ein hervorragender, genauer Beobachter und auch Selbstbeobachter, was ja nicht zusammengehen muss. Das zeigt sich. Er hat ein äuߟerst feines Sensorium auch für innere Zustände und zugleich die Gabe, sie auch zum Wort, zu Papier zu bringen. Mich hat es ein wenig an Lichtenberg erinnert, in dessen Sudelbüchern (auf ganz andere Art) ähnlich tiefe Blicke ins Innere getan werden.

  5. Avatar von uwe
    uwe

    Da ist dir aber was in den falschen Hals gekommen.
    Ich hatte mich erinnert, in einem der Texte von Breton den Namen gelesen zu haben, konnte aber die Stelle und das entsprechende Buch noch nicht finden. Es war also eine vage Erinnerung, und eine tatsächlich stattgefundene Rezeption hatte ich damit nicht behaupten wollen.
    Das surrealistische Rezeptionsverfahren ist ein unwissenschaftliches, eher künstlerisches, und insofern ist es ein idiosynkratisches Verfahren: Sie entkontextualisieren die Quellen, auf die sie sich beziehen und nehmen heraus, was zu ihrer Theorie passt. Sie nutzen Details, wohl wissend, dass das Ganze nicht mit ihren Theorien zusammenkommt. Sie scheren sich auch nicht um philologische Genauigkeit oder Quellenverweise. Ich kenne das von ihrer Goethe-Rezeption und wollte daher zu bedenken geben, dass es mit Hudson – wenn es denn eine veritable Rezeption war – auch so verhalten haben wird. Es gibt bei ihm Formulierungen und Wertschätzungen bestimmter Geisteszustände, die nach meinem Kenntnisstand in die surrealistische Theorie eingegliedert werden könnten. Davon unanbhängig kann man sicherlich markante Unterschiede feststellen.
    Und das mit der Assoziation und dem Oberseminar hast du nun gänzlich missverstanden. Warum nur? Ich wollte zu bedenken geben, dass das Buch von Hudson in den Kontext der „Negerkunst“-Debatten des beginnenden 20. Jhs., überhaupt der sog. Primitivismus-Thematik gestellt werden könnte, wir das aber hier auf dieser Seite nicht leisten können oder wollen. Einzig ein Hinweis auf einen möglichen zeit- und geisesgeschichtlichen Kontext wollte ich geben, einen, der mir nicht abwegig zu sein schien. Die Unterscheidung, von der du sprichst, ist mir sehr wohl bewuߟt, allein ich musste die Belegstellen schuldig bleiben. Aber ausgedacht oder frei, d.h. unverbindlich assoziiert sind sie nicht. Ich kann dem ja bei Gelegenheit mal nachehen. Material dazu habe ich zu Hause. So viel zur Klarstellung (hoffentlich!).

  6. Avatar von Helmut
    Helmut

    Danke für die Klarstellung, anscheindend hatte ich es in der Tat falsch verstanden.

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