Georges Simenon: „Maigret und der Treidler der „Providence“ (Originaltitel: „Le charretier de la Providence“), aus dem Französischen von Claus Sprick, zuerst 1931, erste deutsche Übersetzungen erschienen 1948 und 1966 unter den Titeln „Der Schiffsfuhrmann“ und „Maigret tappt im Dunkeln“, die vorliegende Übersetzung erschien zuerst 1983 bei Diogenes und wurde 2006 für die neue Ausgabe überarbeitet, 167 Seiten, 9 Euro
Im Jahr 1931 ist dieser Maigret-Roman, Band 4 der neu aufgelegten Reihe „Sämtliche Maigret-Romane in 75 Bänden in chronologischer Reihenfolge und in revidierten Übersetzungen“, zuerst erschienen, führt aber in eine Welt, die viel länger vergangen scheint. Die Fortbewegung des Treidelns assoziiert man, so sie einem noch ein Begriff ist, eher mit dem 19. Jahrhundert oder noch früheren Zeiten. Wie langsam man damals vor noch nicht achtzig Jahren sein konnte! Da kann auch der Kommissar mit dem Fahrrad am Kanal entlang den Schiffen hinterherfahren und die Lichtschalter werden noch gedreht (vgl. S. 24), man wäscht sich in der Schüssel (vgl. S. 40), der Untersuchungsrichter trägt Lorgnon (vgl. S. 84) und man isst beim Licht von Petroleumlampen (vgl. S. 113). Wo heute Handys und das Internet das Tempo der Kommunikation bestimmen würden, ist es hier noch das Telegramm (vgl. S. 46). Immerhin, der große, schwere Maigret schafft 68 km mit dem Rad am Kanal entlang.
Und dann, wie dieses frühe Buch des Autors zeigt: Simenon und der Regen – ein Kapitel für sich. Man könnte sich eine Monographie zu diesem Thema vorstellen – oder wünschen. Regen und Nebel sind typischstes Simenon-Krimi-Wetter.
Schleusen unterbrechen den Lauf des Flusses und spielen eine Rolle im Geschehen – und an jeder Schleuse wird getrunken. Auch das wäre heute nicht mehr denkbar. Die Welt ist nüchterner geworden.
Die Stimmung im Buch deutet diese Passage an:
„Der schräge Regenvorhang lichtete sich. Der Weg war schnurgerade. An der dritten Schleuse begann sich die Sonne zu zeigen, noch etwas bleich, und ließ die Wassertröpfchen auf dem Schild funkeln.
Von Zeit zu Zeit musste Maigret absteigen, um die Treidelpferde eines Kahns zu überholen, die Seite an Seite die ganze Breite des Weges in Anspruch nahmen und ein Bein vor das andere setzten, mit einer Anstrengung, die alle ihre Muskeln hervortreten ließ.
(…)
Hier und da ein Feld und Menschen, die sich zur dunklen Erde niederbeugten. Aber fast überall säumten Wälder den Weg. Und das Schilf, einen Meter fünfzig bis zwei Meter hoch, ließ den Eindruck der Stille noch vollkommener erscheinen.“ S. 49)
Langsamkeit, Dörfer, vollkommene Stille, dazu kühles, feuchtes Wetter, so ist der Hintergrund, die Grundierung des Bildes. Simenon nutzt dieses Wetter, um die Atmosphäre des Romans zu entwerfen. Und aus der Entfernung von fast 80 Jahren liest man das vielleicht etwas melancholisch oder doch zumindest sehnsüchtig – eine Erinnerung an das, was einmal war, nun aber wohl gründlich vergangen ist.
Die Kriminalhandlung soll nicht verraten werden, sie ist auch nicht besonders stark, beeindruckender ist die Stimmung, die hier entworfen und – nebenbei mitgeliefert? – wird, die Einsamkeit der wortkargen Figuren und die kargen Umstände, in denen sich ihr Leben spiegelt.
Hier noch ein Beispiel:
““Ein Mann ohne Bindungen. Ein Mann, der alle Brücken zu seiner Vergangenheit, zu seiner früheren Identität abgebrochen hat. An irgendetwas muss der Mensch sich aber doch halten. Er hatte seinen Stall. Den Geruch. Die Pferde. Den Kaffee, den er um drei Uhr morgens trank, noch siedend heiß, bevor er bis zum Abend losmarschierte. Seinen Schlupfwinkel, wenn Sie so wollen. Seine Ecke, die er ganz für sich allein hatte. Durchdrungen von animalischer Wärme…““ (S. 163)
Kaum wirklich überzeugend ist auch die psychologische und physiologische Veränderung des Treidlers, die aber zum Kern des Vorgangs im Roman gehört.
Ein Buch, das sich leicht und schnell liest, das eine ganz gute Unterhaltung ist, als Krimi sicher kein „Burner“, dafür mit einer kleinen Zeitreise in die Welt der Kanäle und Schleusen und mit viel tristgrauer Herbststimmung. Und vielleicht sind diese Stimmungen ja die eigentlichen Helden von Simenons Romanen, vielleicht ist es das, was man stets auf‘s Neue bei ihm sucht und das einen zu einem seiner etwa 300 Bücher greifen lässt. Und vielleicht stecken in diesen, wie es im Zitat heißt, Schlupfwinkel von animalischer Wärme? Kleine Verstecke also, kleine Fluchten. Ja, an irgendwas muss sich der Mensch wohl halten.
Hübsch sind die Vorsatzblätter mit einem Teil des Stadtplans von Paris vorne und der Europakarte hinten, so wird sonst der oft verschenkte oder leichtfertig vergessene Raum sinnvoll genutzt.
Pro Monat sollen 4 Bände dieser Reihe erscheinen.
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