Giorgio Bassani: „Der Reiher“, Roman aus dem Italienischen von Herbert Schlüter, Berlin 2007, zuerst im Original 1968 unter dem Titel „L“airone“ in Mailand, deutsch zuerst 1970 in München, 152 Seiten, 9,90.-
Der „Held“ dieses Buches wird gleich von Beginn an als einer vorgestellt, der seine beste Zeit bereits hinter sich hat. Wobei man nicht recht weiss, ob er je eine „beste Zeit“ hatte. Er ist ein willensschwacher, desillusionierter, entsexualisierter, gleichsam aus der Welt gefallener Einsamer.
Seine Tragödie ist er selbst. Er ist mutlos, mag sich nicht, er ist eine lebende Hülse.
Der Tag, von dem hier berichtet wird, spielt nach dem Krieg um die Weihnachtszeit in der Nähe von Ferrara. Geschildert wird ein Jagdausflug. Mit seiner alten Aprilia will der Hobbyjäger früh aufbrechen, verzettelt sich aber schon zu Beginn und dann immer mehr. Der Autor stellt ihn uns auf diese Weise vor. Das Thema klingt nicht sonderlich sympathisch und nicht unbedingt spannend – und doch, trotz trüber Stimmung, folgt man diesem Protagonisten, der ein launischer, unsicherer Griesgram ist, mit Interesse. Ein Grundbesitzer aber mit den Zeiten hadernd, jetzt wegen der Kommunisten, die Oberwasser haben und ihm entgegenstehen, davor wegen der Faschisten.
Seine Ehe ist ein leidenschaftsloser Beziehungsrest, in Fremdheit erstarrt, die Zeit, als er versuchte, ein guter Ehemann zu werden, nennt er „die schlechtesten Jahre seines Lebens“. Und auch zu seiner Tochter, die er zwar mag, fühlt er keine wirkliche Nähe. Halbwegs wohl fühlt er sich bei einfachen Leuten, doch da ist er allenfalls kurz zu Gast. Im Grunde scheint ihm nichts zu fehlen, aber er fühlt sich bemüssigt festzustellen: „Wie zufrieden mit sich die anderen waren, wie gut sie es hatten, alle anderen.“ (S. 92) Dieser objektiv gesehen grundlose Neid prägt seine Weltsicht. Er sieht sich als Mängelwesen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang auch die selbstentfremdete Beschreibung seiner Genitalien: „Da schau dir das an, grinste er. Grau, dürftig, nicht der Rede wert – mit diesem so vertrauten und zugleich so lächerlichen Mal der Beschneidung… Im Grunde war es nur ein Gegenstand, ein einfacher Gegenstand wie irgendein anderer.“ (S. 97) Doch selbst diese Bemerkung steigert er noch in einem Traum nach seiner Gasthof-Völlerei: „Du bist tatsächlich ohne.“ (S. 104)
Dieser Protagonist ist weder konsequent noch im Umgang mit seinen Mitmenschen besonders ehrlich. Der Erzähler zeigt ihn uns in der Innensicht, wir sehen mit seinen Augen, denken mit was er denkt, stehen mit ihm in einem armseligen, ekligen Klo (S. 96 f.) und liegen, nachdem er gefressen und gesoffen hat, mit ihm und seinen phantasierten falschen Erwartungen und Träumen auf dem Bett in Bellagambas Haus oder irren nachts mit ihm durch die Stadt.
Vielleicht gibt es nur an einer einzigen kleinen Stelle einen ganz leisen, vielleicht nur unterlaufenen Kommentar des Erzählers, nämlich in der Wendung „sogar sich selbst gegenüber so tat“. (S. 122) Ansonsten beschränkt sich der Erzähler darauf, ihn uns vorzuführen, den Gestrigen, der ein Haus sieht, das ihm gefällt, das ein Haus zum darin Leben wäre, von dem er im nächsten Moment aber entdeckt, dass es in verfallenem, maroden Zustand ist. (Vgl. S. 127) Oder den Nichtdazugehörigen, der von der Strasse durch´s Fenster in eine Gastwirtschaft schaut und sieht, dass für ihn kaum Raum mehr ist. (Vgl. S. 129) Und schliesslich ihn, der nicht weiss was er soll und aus Unsicherheit des Nachts vor dem Schaufenster eines Tierpräparators zu stehen kommt und die in Pose erstarrten Tierleichen „lebendiger, als wenn sie lebten“, findet. Vor dieser Scheibe stehend kommt ihm „ein Gedanke, der ihn frei machte, der ihn rettete“. (S. 136)
Welcher das ist, kann hier nicht verraten werden, um dem Buch nicht seine Pointe und damit einen Teil seiner Spannung zu nehmen.
Was peinigt ihn, den Passiven, an der Welt Leidenden so?
Eine grundlegende Fremdheit allem gegenüber, ihn selbst eingeschlossen?
Eine unüberbrückbare Distanz? Für einen Mann von fünfundvierzig Jahren wirkt er frühzeitig vergreist, von Ennui, ja Verwirrung gezeichnet, nirgends zugehörig. Bassani (1916-2000) schrieb hier ein Porträt existentieller Unbehaustheit, das auch „Erzählung“ oder selbst „Novelle“ heissen könnte.
Edgardo Limentani leidet, weil er kein anderer als er selbst ist. (Vgl. S. 34 f.) So scheint ihm kaum zu helfen.
Seine Gleichgültigkeit – ist sie Ursache oder Symptom seiner Krankheit? – geht so weit, dass folgende Gedanken möglich sind, als er eine Szene zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau beobachtet: „Aber was bedeutete es? Auch wenn er ihr, nachdem er sie gepackt hatte, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte, das Messer in die zuckende Kehle stiess, was war dann in Wirklichkeit Schwerwiegendes geschehen? Man brauchte die Dinge des Lebens nur aus einer gewissen Distanz zu betrachten, um zu sehen, was an ihnen war – nämlich nichts oder so gut wie nichts.“ (S. 127)
Ähnliches zeigte sich jedoch auch schon im Kleinen – etwa wenn er sich von Bellagamba, den er nicht mag, seine Aprilia abschwätzen lässt, die er mag – und sie ihm gleich schenken will. Ihm, der bei den Faschisten war, dem er mit seiner schleimigen Freundlichkeit nicht über den Weg traut, den er jahrelang nicht gesehen hatte und zu dem er nur zufällig, eines dringenden menschlichen Bedürfnisses wegen, kam.
Er ist ein Träumer, vielleicht ein Weichling, jedenfalls kaum richtig anwesend auf dieser Welt. Früher hätte man ihn einen Melancholiker genannt, heute wohl eher einen Depressiven, in jedem Fall eine beschädigte Seele – wodurch wird nicht erzählt. Und so sieht auch die Idee aus, in der er Leichtigkeit, eine Art Trost und paradoxer Weise gar die Rettung sieht.
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