Giorgio Bassani: „Der Reiher“

Giorgio Bassani: „Der Reiher“, Roman aus dem Italienischen von Herbert Schlüter, Berlin 2007, zuerst im Original 1968 unter dem Titel „L“airone“ in Mailand, deutsch zuerst 1970 in München, 152 Seiten, 9,90.-

Der „Held“ dieses Buches wird gleich von Beginn an als einer vorgestellt, der seine beste Zeit bereits hinter sich hat. Wobei man nicht recht weiss, ob er je eine „beste Zeit“ hatte. Er ist ein willensschwacher, desillusionierter, entsexualisierter, gleichsam aus der Welt gefallener Einsamer.

Seine Tragödie ist er selbst. Er ist mutlos, mag sich nicht, er ist eine lebende Hülse.
Der Tag, von dem hier berichtet wird, spielt nach dem Krieg um die Weihnachtszeit in der Nähe von Ferrara. Geschildert wird ein Jagdausflug. Mit seiner alten Aprilia will der Hobbyjäger früh aufbrechen, verzettelt sich aber schon zu Beginn und dann immer mehr. Der Autor stellt ihn uns auf diese Weise vor. Das Thema klingt nicht sonderlich sympathisch und nicht unbedingt spannend – und doch, trotz trüber Stimmung, folgt man diesem Protagonisten, der ein launischer, unsicherer Griesgram ist, mit Interesse. Ein Grundbesitzer aber mit den Zeiten hadernd, jetzt wegen der Kommunisten, die Oberwasser haben und ihm entgegenstehen, davor wegen der Faschisten.

Seine Ehe ist ein leidenschaftsloser Beziehungsrest, in Fremdheit erstarrt, die Zeit, als er versuchte, ein guter Ehemann zu werden, nennt er „die schlechtesten Jahre seines Lebens“. Und auch zu seiner Tochter, die er zwar mag, fühlt er keine wirkliche Nähe. Halbwegs wohl fühlt er sich bei einfachen Leuten, doch da ist er allenfalls kurz zu Gast. Im Grunde scheint ihm nichts zu fehlen, aber er fühlt sich bemüssigt festzustellen: „Wie zufrieden mit sich die anderen waren, wie gut sie es hatten, alle anderen.“ (S. 92) Dieser objektiv gesehen grundlose Neid prägt seine Weltsicht. Er sieht sich als Mängelwesen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang auch die selbstentfremdete Beschreibung seiner Genitalien: „Da schau dir das an, grinste er. Grau, dürftig, nicht der Rede wert – mit diesem so vertrauten und zugleich so lächerlichen Mal der Beschneidung… Im Grunde war es nur ein Gegenstand, ein einfacher Gegenstand wie irgendein anderer.“ (S. 97) Doch selbst diese Bemerkung steigert er noch in einem Traum nach seiner Gasthof-Völlerei: „Du bist tatsächlich ohne.“ (S. 104)
Dieser Protagonist ist weder konsequent noch im Umgang mit seinen Mitmenschen besonders ehrlich. Der Erzähler zeigt ihn uns in der Innensicht, wir sehen mit seinen Augen, denken mit was er denkt, stehen mit ihm in einem armseligen, ekligen Klo (S. 96 f.) und liegen, nachdem er gefressen und gesoffen hat, mit ihm und seinen phantasierten falschen Erwartungen und Träumen auf dem Bett in Bellagambas Haus oder irren nachts mit ihm durch die Stadt.
Vielleicht gibt es nur an einer einzigen kleinen Stelle einen ganz leisen, vielleicht nur unterlaufenen Kommentar des Erzählers, nämlich in der Wendung „sogar sich selbst gegenüber so tat“. (S. 122) Ansonsten beschränkt sich der Erzähler darauf, ihn uns vorzuführen, den Gestrigen, der ein Haus sieht, das ihm gefällt, das ein Haus zum darin Leben wäre, von dem er im nächsten Moment aber entdeckt, dass es in verfallenem, maroden Zustand ist. (Vgl. S. 127) Oder den Nichtdazugehörigen, der von der Strasse durch´s Fenster in eine Gastwirtschaft schaut und sieht, dass für ihn kaum Raum mehr ist. (Vgl. S. 129) Und schliesslich ihn, der nicht weiss was er soll und aus Unsicherheit des Nachts vor dem Schaufenster eines Tierpräparators zu stehen kommt und die in Pose erstarrten Tierleichen „lebendiger, als wenn sie lebten“, findet. Vor dieser Scheibe stehend kommt ihm „ein Gedanke, der ihn frei machte, der ihn rettete“. (S. 136)
Welcher das ist, kann hier nicht verraten werden, um dem Buch nicht seine Pointe und damit einen Teil seiner Spannung zu nehmen.

Was peinigt ihn, den Passiven, an der Welt Leidenden so?
Eine grundlegende Fremdheit allem gegenüber, ihn selbst eingeschlossen?
Eine unüberbrückbare Distanz? Für einen Mann von fünfundvierzig Jahren wirkt er frühzeitig vergreist, von Ennui, ja Verwirrung gezeichnet, nirgends zugehörig. Bassani (1916-2000) schrieb hier ein Porträt existentieller Unbehaustheit, das auch „Erzählung“ oder selbst „Novelle“ heissen könnte.

Edgardo Limentani leidet, weil er kein anderer als er selbst ist. (Vgl. S. 34 f.) So scheint ihm kaum zu helfen.
Seine Gleichgültigkeit – ist sie Ursache oder Symptom seiner Krankheit? – geht so weit, dass folgende Gedanken möglich sind, als er eine Szene zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau beobachtet: „Aber was bedeutete es? Auch wenn er ihr, nachdem er sie gepackt hatte, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte, das Messer in die zuckende Kehle stiess, was war dann in Wirklichkeit Schwerwiegendes geschehen? Man brauchte die Dinge des Lebens nur aus einer gewissen Distanz zu betrachten, um zu sehen, was an ihnen war – nämlich nichts oder so gut wie nichts.“ (S. 127)
Ähnliches zeigte sich jedoch auch schon im Kleinen – etwa wenn er sich von Bellagamba, den er nicht mag, seine Aprilia abschwätzen lässt, die er mag – und sie ihm gleich schenken will. Ihm, der bei den Faschisten war, dem er mit seiner schleimigen Freundlichkeit nicht über den Weg traut, den er jahrelang nicht gesehen hatte und zu dem er nur zufällig, eines dringenden menschlichen Bedürfnisses wegen, kam.
Er ist ein Träumer, vielleicht ein Weichling, jedenfalls kaum richtig anwesend auf dieser Welt. Früher hätte man ihn einen Melancholiker genannt, heute wohl eher einen Depressiven, in jedem Fall eine beschädigte Seele – wodurch wird nicht erzählt. Und so sieht auch die Idee aus, in der er Leichtigkeit, eine Art Trost und paradoxer Weise gar die Rettung sieht.


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17 Antworten zu „Giorgio Bassani: „Der Reiher““

  1. Avatar von uwe
    uwe

    täusche ich mich oder hast du dich bewuߟt jeder beurteilung des kleinen romans enthalten? ist es nun eine gelungene, lesenswerte studie über ein verfehltes leben?
    ich meine ja. ich habe es mit wachsender spannung gelesen. es ist eine sehr präszise charakterstudie, fast könnte man von einem fallbeispiel sprechen: wie ein leben, ein lebensentwurf, ein lebensstil in die totale sinnlosigkeit mündet. und das wird sehr detailreich und präzise geschildert.
    ich fühlte mich an camus und den existentialistischen roman erinnert. der protagonist limentani scheint mir der absurde mensch par excellence zu sein. er füllt dessen gesamten symptomkatalog aus: die nichtzugehörigkeit, das erleben der welt wie durch eine glasscheibe, die fehlende soziale empathie, die trägheit und willens- sowie entscheidungsschwäche, das gefühl, überlebt und ein relikt aus vergangenen zeiten zu sein, das fehlende vertrauen in die persönliche, familiäre und soziale rolle, die unsicherheit in allen lebenslagen und so fort. diese umfassende unbehaustheit wird konterkariert durch seine sehnsucht, einen platz in der welt zu finden, einen zufluchtsort, die sicherheit eines lebensstils. an einem tag wird gezeigt, wie das befremden zunimmt und er sich zuletzt über seine eigene, nur noch skizzenhaft vorhandene persönlichkeit klar wird und daraus, aus diesem gefühl umfassender sinnlosigkeit, die konsequenzen zieht. ist ihm erst einmal der rettende gedanke gekommen – welcher das ist, will auch ich nicht verraten -, empfindet er ein tiefes gefühl des glücks und plötzlich weiߟ er auch, was zu tun ist, wie er sich zu verhalten hat – er verspürt kraft, maߟ und präzision in seinen handlungen, all das, was ihm über den tag hinweg so gefehlt hat.
    all das wird klar und unsentimental, ohne jede lamoryanz erzählt, immer nah dran an der subjektiven erlebnisperspektive des protagonisten. auch das setting, die sumpflandschaft der valli, findet ich glänzend gewählt und auf den schwankenden grund von limentanis existenz verweisend. gut auch, das unklar bleibt, ob das verfehlte leben fremd- oder eigenverschuldet ist. es werden familiengeschichtliche und politische, aber eben auch charakterliche gründe angedeutet, aber nicht wirklich ausgeführt. das allerdings erhöht für mich den allgemeingültigen, exemplarischen wert der erzählung. und nicht zuletzt der titelgebende reiher, grandios als leitmotiv und symbol zugleich für die verzweifelte lage des protagonisten eingesetzt.
    wie du siehst, war ich rundum zufrieden mit diesem kleinen roman. eine lohnende lektüre, bei aller bitterkeit der thematik. ich muߟ schluߟ machen, bin schon wieder zu lange im kommentarfeld. bis bald.

  2. Avatar von Helmut
    Helmut

    Kann der Mensch auch zu lang im Kommentarfeld sein???
    Lassen wir“s dahingestellt.
    Ich danke für den langen Kommentar.
    Das mit dem Urteil ist so eine Sache – es kommt mir zuweilen etwas wohlfeil vor, den Daumen zu recken oder zu senken. Manches will man schlicht vorstellen – und neugierig darauf machen.
    Und vielleicht ist es ja auch an einer Besprechung, die nicht mit der Kelle winkt zu entnehmen, ob man das Buch schätzt oder doch eher nicht.
    Mir geht es nach. Ich fand es gut, allerdings nicht unbedingt angenehm. Auch der „Held“ ist ja kein sympathischer. Trotzdem eine eigene, eigentümliche Stimmung.
    Der Reiher als Symbol war mir allerdings eher etwas zu plump, darauf hätte ich verzichten können.
    Aber was weiߟ man vom Lebensentwurf Limentanis?
    Und ob so ein Leben zwangsläufig verfehlt ist, scheint mir auch noch nicht ganz ausgemacht. – Man müsste vielleicht auch Meinungen anderer Figuren hören.
    Ein absurder Mensch – vielleicht. Aber verbunden mit der Frage, ob wir nicht alle ein Stück solcher Absurdität in oder mit uns herumtragen.

  3. Avatar von uwe
    uwe

    mir fehlte allein eine explizite beurteilung, die du sonst ja auch nicht missen läߟt. es war mir eben aufgefallen.
    gerade weil vieles von den gründen, warum dieses leben scheitert, offen bleibt, nur angedeutet wird, erhält es meiner meinung nach einen exemplarischen charakter. jenseits der spezifischen historisch-politischen umstände und des besonderen charakterlichen zuschnitts des helden, kann jeder von uns von diesen anfechtungen heimgesucht werden. das gefühl des absurden, das fremdwerden und -bleiben des vermeintlich vertrauten, die gleichgültigkeit gegenüber allem, fehlende empathie – wer kennt diese depressiven schübe nicht von zeit zu zeit. wir alle werden tage haben, denen wir noch im bett liegend eine gute nacht wünschen wollen. bei limentani scheint es nur solche zu geben, weshalb die tödliche konsequenz, die er am ende zieht, schlüssig ist – für ihn. camus schreibt, daߟ es angesichts des umfassenden gefühls der absurdität des lebens nur zwei möglichkeiten gibt: selbstmord oder wiederherstellung. zur letzten ist limentani nicht fähig oder bereit.
    ich fand das buch bedrückend, seine formale und sprachliche präzision bestechend. und auch das reiher-symbol fand ich zusammen mit dem handlungsort der sümpfe und dem jagdgeschehen schlüssig und gut – und vor allem entscheidend für den weiteren bewuߟtwerdungsprozeߟ des helden.
    ich freue mich auf die neuauflage seiner werke im wagenbach-verlag.
    noch eins: erinnert fühlte ich mich auch an die werke von marai, vor allem in der thematik der überlebten, scheinbar veralteten lebensstile. bei marai allerdings sind die helden fester in ihrer sozialen rolle verankert, sie füllen sie aus, stoߟen dabei aber an die grenzen einer neuen zeit und daraus entwickelt sich dann eine psychologische und soziale spannung, die erzählerisch ausgebreitet wird. bei bassani geht es mehr um die unfähigkeit, die durch herkunft und klassenzugehörigkeit angestammte rolle anzunehmen und sinnvoll praktizieren zu können bzw. übehaupt um die uinfähigkeit, einen platz im leben zu erobern. limentani ist ja kein relikt aus der vergangenheit, das in sich selber ruht, sondern er erfährt sich im kontakt mit seinen mitmenschen und im kontext seiner handlungen als unterlegen, defizitär, nicht für voll zu nehmen: er wäre gern ein anderer, doch weder der alte, noch für seinen vater gültige lebensentwurf noch der neue, von seinem vetter und dem faschisten bellagamba angenommene, kann er mit sinn füllen.
    doch genug. ein lesenswertes buch, das einem nachgeht. sympathisch ist einem der held nicht, aber menschlich nah, wie ich finde.

  4. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ich bin mir nicht sicher, ob Limentani ein exemplarischer Charakter ist. – Wegen Offenheit allerdings? Das verstehe ich nicht ganz.
    Menschlich nah, wie Du am Schluߟ schreibst – ich weiߟ nicht. bin mir nicht sicher, wie Du das meinst.
    Die „tödliche Konsequenz“ allerdings sehe ich nicht unbedingt als gegeben an, der Roman endet offen. Ob es der Zauderer schafft, sich den Kopf wegzublasen? Ich halte es auch für gut vorstellbar, dass er wiede davon abkommt und weiter sein unwirsches Danebenlebn führt.
    An Marai hat er mich nicht erinnert. Das gemeinsame Dritte wäre das aus der Zeit fallen, gut, aber da gäbe es auch noch andere Möglichkeiten. Vom Erzählen, vom Sprachlichen, von dr Stimmung her erinnert er mich nciht an Marai.

  5. Avatar von MB
    MB

    Ich habe das Buch über Weihnachten gelesen, passagenweise fast verschlungen. Es IST spannend, obwohl nicht viel passiert – und das hat mit der hier schon gelobten Erzählweise zu tun.
    Warum heiߟt der Roman „Der Reiher“? Ich war etwas verwundert, dass Helmut darauf gar nicht eingeht. Gut, er findet das Motiv eher plump, möchte dem Buch damit aber nicht gleich den Negativ-Stempel aufdrücken (was ich wiederum sympathisch finde). Zurück zum Reiher-Motiv. Ich habe die Passage, wo der Protagonist das Abschieߟen der Vögel (immerhin an die 40 Stück) gänzlich einem Gehilfen überlässt, doch mit wachsender Spannung gelesen. Die Beschreibung des Fluges und Todeskampes des Reihers fand ich durchaus meisterhaft, fast filmisch, wie in Zeitlupe gegeben, und doch vermag der Film wohl nicht, was die Sprache in zergliedernden, die Zeit ausdehenenden Sätzen schafft: eben diese seltsam existantialistische Stimmung von Leben und Sterbenlassen evozieren, die dem Leser Raum lässt, diese Situation auch auf den Protagonisten zu beziehen. Auch er lässt sich ja gewissermaߟen durch die Luft treiben, gibt allenfalls körperlichen Bedürfnissen nach. Aber er ist keineswegs der Reiher, denn dieser hat nicht diese letzte Entscheidungsfreiheit über Leben oder Tod, die Limentani hat.
    Im übrigen fand ich fast verwunderlich, dass sowohl H. als auch U. immer von der „Pointe“ sprechen, für mich war sie das gar nicht, im Gegenteil, diese Sterbensmüdigkeit haftet ja von Anfang an der Hauptfigur an. Man spürt doch als Leser, dass hier ein letzter Aufbruch stattfinden soll. Es ging mir jedenfalls so, und ich kannte den Ausgang der Geschichte nicht, der ja, wie H. zu Recht betont, offen bleibt. Auch das ist ein Aspekt des Romans, der einen noch nach der Lektüre beschäftigt: Tut er’s wirklich? Soll er es sogar tun? Anders gefragt: Ist der Protagonist eigentlich sympathisch oder unsympathisch? Oder ist er nur insofern sympathisch, weil fast alle anderen Charaktere einem teilweise noch unangenehmer erscheinen?

  6. Avatar von Helmut
    Helmut

    Zunächst einmal freut es mich, dass Dir das Buch so gut gefallen hat. –

    Du sprichst Verschiedenes an.
    Warum das Buch „Der Reiher“ heiߟt? – Ist das nicht allzu klar? Das hängt zusammen mit der symbolischen Analogie, auf die Du auch zu sprechen kommst und die mir etwas zu simpel ist, ja.

    Was die Zeit-Dehnung angeht, kann das der Film schon auch – etwa mit der Zeitlupe oder Wiederholungen.

    Läߟt sich Limentani durch die Luft treiben? Klingt das nicht viel zu leicht? Ist das nicht sehr irdisch, was er macht und wie es ihm widerfährt, ja selbst wie es beschrieben ist?

    Mir war nicht von Anfang an klar, dass dieses Buch auf Suizid hinauslaufen muss – und ich weiߟ auch nicht, woran man das hätte ablesen sollen. Sicher, etwas besonderes musste es mit dieser Jagd auf sich haben, sonst würde B. sie nicht beschreiben, sie nicht zum Thema machen. – Aber dass das Besondere der eventuelle Selbstmord der Hauptfigur sein müsse?

    Spekulieren könnte man ja endlos darüber, ob Limentani den Bindfaden benutzt, ich neige zu der Auffassung: Nein, tut er nicht. Er ist selbst zu dieser Tat zu träge. Er scheint mir einer derjenigen zu sein, für die, wie es bei Benjamin heiߟt, der Selbstmord die Mühe nciht wert ist. Er spielt damit, das genügt ihm. Er scheint mir nicht verzweifelt genug. Und seine Gründe sind, sofern wir sie kennen, vielleicht zu nichtige, wenngleich das freilich subjektiv ist.

  7. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ach ja, eine sympathische Figur ist er mir nicht – aber ist das von Belang?

  8. Avatar von MB
    MB

    Ein paar eher hingeworfene, nicht ganz durchgegorene Bemerkungen zu Helmuts letztem Kommentar:
    Merkwürdig, aber mir ging es beim Lesen so, dass eine Entscheidung zum Selbstmord von Anfang an in der Luft liegt: ich empfand z. B. den Abschied von seinem Kind so, als wenn Limentani vorhätte, nicht zurückzukehren. Der Zeitplan, den er sich auferlegt hat, hat ja auch etwas striktes, fast insistierend Erzwingendes. Dann hält er den Zeitplan nicht ein, lässt sich treiben, aufhalten (so hatte ich die Analogie gemeint).

    Dann die Frage, inwieweit man sich mit Charakteren identifiziert, ob sie einem also sympathisch sind oder nicht. Das mag rein subjektiv und etwas Persönliches sein, hat nichts mit der Qualität eines Textes zu tun. In diesem besonderen Fall fand ich in dem Buch aber nicht eine einzige Figur, die mir sympathisch geworden wäre (muss ja auch nicht), da folgt man emotional stückweit evtl. doch der Hauptfigur. Vielleicht hat mich auch nur meine eigene Nonchalance gegenüber der Entscheidung des Protagonisten (ja, soll er sich halt umbringen, besser so!) irritiert.
    Wenn Literatur mich verstören kann, finde ich sie gut, dies ist natürlich kein ausschlieߟliches Kriterium für gute Literatur.

    Zu Benjamins destruktivem Charakter: der ist intelligenter.

  9. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ich lese mir die Seiten mit dem Abschied von der Tochter nochmal durch – etwas merkwürdig fand ich ihn auch – aber was gibt es nicht alles?! -, allerdings kam er mir nicht wie ein letzter vor.
    Der strikte Zeitplan – fand ich nicht so extrem – und traditionell jagt man früh, das ist nun mal so und wenn man dann noch Hilfe braucht, muss man einen Termin machen. – Was mich allerdings schon beim Lesen nervte, war der Umstand seiner dauernden Ausreden vor sich selbst, weil er den Zeitplan nicht einhielt. Das war für mich jedoch noch kein Kriterium Schlimmeres zu vermuten, ich kenne da Kandidaten, die seit Jahrzehnten viel zu spät kommen ohne suizidär werden zu wollen.
    Sympathisch ist, das ist richtig, in diesem Buch eigentlich niemand. Ich finde aber auch, dass das kein Qualitätskriterium ist. Mir fiel nur schon oft auf, dass selbst eine unsympathische Figur bei genauer Beobachtung naherückt und etwas sympathieähnliches bekommt. Ein interessanter Effekt wie ich finde, der einem zu Denken geben kann. Würde ich auch gerne, auch an anderen Beispielen thematisieren.
    Das vielleicht etwas laxe aber nicht ganz unverständliche „soll er sich halt umbringen“ steht dem entgegen – dazu noch ein Wort? Warum diese Gleichgültigkeit oder Ablehnung der Figur gegenüber – wo doch Lesespannung da war? Woher rührt diese?
    Natürlich könnte man sich auch fragen, warum Bassani nur unsympathische Figuren ins Rennen schickt; was für ein Lebensgefühl tritt hier zutage?

  10. Avatar von MB
    MB

    Auch heute nur ein rascher Kommentar zu einem Aspekt. Ja, dieser Zwiespalt: ich mag diese Figur (ein Stück weit), ich mag sie wiederum nicht. Vielleicht ist von daher mein seltsames „soll er sich halt umbringen“ motiviert. Für Lamentani hat die Idee des Selbstmords ja etwas Befreiendes, ich habe es beim Lesen zumindest so empfunden. Die entscheidende Differenz, dass der Selbstmord nur eine Lösung vom, nicht aber im Leben ist, stellt sich in dem Moment nicht ein. Man freut sich fast mit ihm, dass er bald von aller Last befreit sein wird.
    Ich folge der Figur also ein Stück weit und bin auch bereit, sie ab einer bestimmten Stelle, wenn sich kein neuer Horizont (zum Weiterleben hin) auftut, aufzugeben, ihr Tod (er findet ja nur im Roman statt – das sei allen „Wolfgangs“ der Welt ins Stammbuch geschrieben) berührt mich dann nicht weiter.
    Auch darüber könnte, müsste man vielleicht noch einmal näher, und vor allem, anhand anderer Beispiele diskutieren. Ebenso interessant fand ich Helmuts Schlussfrage. – Andere Stimmen dazu?

  11. Avatar von Helmut
    Helmut

    Selbstmord – oder wie man es nennen will, ich habe bei diesem Wort stets ein ungutes Gefühl, aber es ist einfach handhabbarer als „Hand an sich legen“ – im Ernst als Befreiung su sehen, erfordert ja schon eine Volte. Geht man da nicht Limentanis absurder Existenz auf den Leim?! („Lamentani“ ist ein netter Verschreiber; passt ja auch: Er lamentiert innerlich – hadert mit allem, hat zu nichts einen wirklichen Bezug)
    Ich habe mich jedenfalls nciht mit ihm gefreut, fand es im Gegenteil absurd und, ja, auch ein biߟchen ekelhaft. Im Grunde hat er alles, was er braucht, eigentlich mehr als das – aber er hat es nicht wirklich, weiߟ nichts damit anzufangen. Dafür muss er nichts können. Man kann es ihm vielleicht auch nicht zum Vorwurf machen. (Vielleicht abe doch?) Bassani sagt nichts darüber.
    Deines Hinweises, dass ein geschriebener Selbstmord oder Mord oder was immer eben nur ein geschriebener Selbstmord oder Mord ist, hätte es bei mir nicht bedurft. Einerseits. Andererseits: Ein geschriebener Selbstmord… ist natürlich schon das Modell eines wirklichen, ist ein Modell, das man an“s Leben halten kann – und wird. – Bleibt da nicht die Warum- Frage? Oder andere?
    Aber wie gesagt: Der Vollzug wird nicht erzählt. Und meiner Einschätzung nach ist der „Held“ einer, der ihn ausführen wird.
    Du möchtest mit anderen literarischen Suizidären in spe vergleichen – an wen denkst Du da?

  12. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ich habe mir den Anfang noch einmal angesehen und finde meine Leseweise bestätigt:
    S. 10 der 2. Absatz – deutet das auf das Vorhaben eines „Selbstmords“?
    Oder S. 19 in der Mitte: „Ja, sich trennen… .“ – Das ist doch kein Gedanke eines Selbstmörders.
    Auch wird ja die doch eher plötzliche Erkenntnis vor dem Schaufenster des Ausstopfers eindrücklich eschrieben.

    Doch ich wollte mir ja besonders den Abschied von der Tochter ansehen.
    Auf Selbstmordabsichten läߟt auch das nicht schlieߟen, aber über zwei Formulierungen könnten wir uns austauschen:
    S. 20: Woher die Verzweiflung? Was könnte das „wilde Tier“ sein?
    Und S. 20: Er ging die Treppe hinunter „mit dem Gefühl, sich in einen Brunnen fallen zu lassen.“
    Was ist das für eine Bildlichkeit?

    Du könntest so argumentieren: Sein Unterbewusstsein weiߟ schon mehr als er und ahnt oder diktiert bereits die vorbereitende Wahrnunehmung.

  13. Avatar von MB
    MB

    Ich habe mir nun nicht mehr die Mühe gemacht (zumindest heute abend), den Anfang noch einmal zu lesen, es war etwas Atmosphärisches, was mich gelegentlich an den möglichen Selbstmord des Protagonisten denken lieߟ, gerade dieses Sich-in-den-Brunnen-Fallenlassen. Interessanterweise scheint es da verschiedene Leseweisen zu geben. Ich müsste tatsächlich noch einmal genauer nachsehen, es ist merkwürdig, was durch Atmosphärisches an Erwartungen im Leser – je nach Temperament – geweckt werden kann. Zum Beispiel dachte ich abgesehen vom Selbstmord für einen Moment noch, es würde womöglich einen tragischen Jagdunfall geben, Lamentani erschieߟt versehentlich anstelle des Reihers seinen Gehilfen. Woher ich das jetzt wieder nehme? Keine Ahnung…

  14. Avatar von uwe
    uwe

    wie schon in meinen kommentaren 1 und 3 ausgeführt, ist es für mich die geschichte eines mittelalten mannes, der sich der absurdität seines lebens bewuߟt wird und daraus konsequenzen zieht. welche, und ob eine tödliche, bleibt offen, doch einiges deutet darauf hin, daߟ er seine trägheit überwindet und den tag als seinen letzten beschlieߟen wird.
    ein tag wird geschildert, der wie die probe aufs exempel seines lebens erscheint: alle begegnungen und situationen führen bei ihm dazu, seine umfassende existentielle haltlosigkeit offenzulegen, ihm seine unbehaustheit im leben und in der welt vor augen zu führen. das „wilde tier“, das ihn schon am morgen befällt, ist – meiner lesart zufolge und wie helmut schon anmerkte – sein unterbewuߟtsein, das mehr „weiߟ“ als er selbst und ihn quasi antreibt, diesen tag auf sich zu nehmen, den jagdausflug gewissermaߟen als einen „scheideweg“ (122) anzunehmen und sich endlich den entscheidenden fragen zu stellen: warum lebe ich (so)? wer bin ich (eigentlich)? dies ist ihm zunächst und bis weit in den tag hinein nicht bewuߟt, kommt nur in undeutlichen gefühlen und stimmungen, reflexionen und erinnerungen in ihm auf, doch mündet dieser prozeߟ des zunehmenden fremdwerdens des eigenen, bisherigen lebens in die erkenntnis seiner völligen sinnlosigkeit. die unzufriedenheit mit dem eigenen leben, der widerwille gegen die eigene person nimmt über den tag hinweg stetig zu, das „wilde tier“ oder die „bestie“, wie es an einer anderen stelle heiߟt (100), gönnt ihm keine ruhe. er wird gezwungen, sich in spiegelflächen zu erkennen, und zwar als eine person, die im begriffe ist, sich aufzulösen (102). zu dieser fortschreitenden entwirklichung seiner person und der distanzierung dem eigenen leben gegenüber paߟt auch der kastrationstraum (104-108) und die einsicht, daߟ er schon den ganzen tag über irr redet, phantasiert (125). kommt es ihm zu beginn des tages so vor, als wäre er von seiner um-welt wie durch eine glasscheibe getrennt (15), so fühlt er sich am ende desselben tages gerade hinter dieser glasscheibe in sicherheit, geborgen (135): vor dem schaufenster des tierpräparators kommt ihm die plötzliche aber durch die ereignisse das tages nicht mehr wirklich überraschende erkenntnis, daߟ der tod seine rettung, befreiung sein könnte.
    ob er die tat wirklich ausführt, bleibt offen, wird nicht erzählt. ich für meinen teil glaube aber, daߟ er den bindfaden ziehen wird, denn: wozu dieser ganze erzählerische aufwand, wenn am ende ein lebensmüder zu träge ist, die erkenntnis seiner absurden existenz nicht in die todbringende tat umzusetzen in der lage ist? so wie er nach dem bad seine über den tag anhaltenen verdauungsstörungen aufzuheben vorhat, die verstopfung in eine entleerung überführen will, so wird er meiner einschätzung nach dieses leben, diese welt mit einem oder zwei gewehrschüssen verlassen. aber definitives wird darüber nicht erzählt, das will ich zugeben.
    so viel zu meiner lesart, die mir nahegelegt wurde aufgrund der sehr stringent und ohne jede larmoyanz erzählten geschichte über einen mann, der seine lebenslange willens- und entscheidungsschwäche wenigstens einmal überwindet – paradoxer weise mit dem ergebnis seiner mumaߟlichen selbstauslöschung.
    lg, uwe.

  15. Avatar von Helmut
    Helmut

    Zu Nr. 13 und Nr. 14:

    Atmosphärisch – ja, das gibt es, aber es lieߟe sich vielleicht auch am Text oder an Textstellen festmachen? Der Brunnen und das wilde Tier – gut, ja, da schwingt Ungutes mit, sicher, aber wenn das immer gleich die ultima ratio zur Konsequenz hätte, wäre auf der Welt mehr Platz.
    Ein Jagdunfall wäre denkbar gewesen. – Hat sich dann aber nicht bewahrheitet, im Gegenteil, L. wollte zwar zur Jagd – warum eigentlich?, im Winter, wenn er nicht schieߟen will und am Erlegten kein Interesse hat und es verschenkt – aber offenbar nicht töten.

    Die Interpretation von Uwe in Nr. 14 gefällt mir sehr gut und ich kann da bis auf die beiden letzten Absätze gut mitgehen.
    Aber natürlich bleibt die Frage offen: WARUM? Das spart Bassani aus – und das ist, schätze ich, ein Teil der beunruhigenden Wirkung dieses Buches. Es gibt keine nachvollziehbare Erklärung, die dem Leser angeboten wird.
    Wichtig scheint mir, dass L. nicht nur mit dem Leben unzufrieden ist – das sind viele -, sondern der erwähnte Unwille gegen die eigene Person.
    Allerdings, das hatte ich, glaube ich, schon erwähnt, ginge meine Spekulation in die Richtung, dass er den letzten Schritt nicht vollzieht. Aber es ist müssig, sich auszutauschen und These gegen These zu stellen: Wir wissen es nicht.
    Von daher kann man nicht mit Bestimmtheit sagen, dass er seine Entscheidungsschwäche einmal überwindet. – Im Gegenteil könnte man gerade fragen: Warum denn ausgerechnet jetzt? – Er war betrunken, es ist Winter – vielleicht war es nur ein schlechtes Wochenende?
    Jedenfalls ist L. eine moderne Figur und vielleicht kennt jeder Leser ein mehr oder weniger groߟes Stück weit auch die Absurdität, die L. empfindet von sich selbst und vielleicht war es auch das, was Michael zu seiner Lesart brachte?

  16. Avatar von MB
    MB

    Ich glaube, Eure letzten Kommentare bringen tatsächlich auf den Punkt, was ich mit dem Atmosphärischen meinte bzw. was mich zu einer bestimmten, von Anfang an auf den Tod abzielenden Lesart, brachte: diese existentialistische Leere, der untergründige Selbsthass von L., die Müdigkeit, die in jeder Handlung des Protagonisten steckt. Dass dieser „Ton“ im ganzen Buch durchgehalten wird, gehört für mich ebenso zu den Stärken wie der offene Schluss. Auch ich bin gar nicht sicher, ob sich L. wirklich tötet.

    Auch ein interessanter Aspekt: für die Personen aus Limentanis Umfeld deutet vermutlich nichts auf seine Selbstmordabsicht hin. Er ist halt ein Kauz. Sich umbringen? Warum sollte er? – Genauso gut könnte es doch sein, dass jede im Roman vorgestellte Figur an demselben Tag mit ihrem Leben abgeschlossen hat: der zermürbte, mürrische Hausmeister, der sich über seine Tochter grämt; der alte Faschist in seinem schäbigen Hotel; der Jagdgehilfe, der Stunden auf den Jäger wartet, obwohl jeder vernünftige Mensch längst nach Hause gegangen wäre, der dann im Rausch die Vögel abknallt – am Ende könnte er sich doch auch eine Kugel in den Körper jagen. Ich schätze, das ist es, was Uwe mit dem Existentialismus des Romans meint. Jedes der geschilderten Leben ist absurd und irgendwie (man zwinge mich nicht, dieses „irgendwie“ zu definieren oder zu belegen) sinnlos. Sie könnten sich alle umbringen – und es genauso gut lassen, business as usual.

  17. Avatar von Helmut
    Helmut

    Ausweitung der Kampfzone – auch ein Aspekt. Wer verfügte über ein sinnvolles Leben – gibts das überhaupt, nicht schlecht – oder ganz schlecht? Und gilt“s nur für diesen Roman?

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